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Kaufberatung Zeitfahrrad: Was ist das eigentlich? Und für wen vor allem?

by Daniel

Im letzten Beitrag zu unserer kleinen Serie „Fahrrad Typen“ nehmen wir nochmal ordentlich SPEED auf…

…und beschäftigen uns mit der Radkategorie, mit der man – zumindest im Flachen – eine durchgehend (sehr) hohe Geschwindigkeit realisieren kann.

Dem Zeitfahrrad, welches nicht nur durch seine futuristische Optik mit Aufliegern und Scheibenrädern heraussticht, sondern auch durch seinen sehr speziellen Einsatzzweck:

-> 30-60 min All-Out in der „ehrlichsten“ Disziplin des Radfahrens, dem Kampf alleine gegen die Uhr!!!

Und das in einer Haltung, die zu einer signifikanten Reduzierung des Luftwiderstands führt – und die unsere Energie effizienter in Geschwindigkeit umwandeln soll, als das auf Rädern anderer Kategorien (Komfort- und Aero-Rad) möglich ist.

Die Berücksichtigung folgender Attribute bei der Betrachtung eines Zeitfahrrades bleiben identisch zu unserer Komfort-Rad-/ und Aero-Rad-Analyse

Hier noch einmal schnell aufgelistet:

  • Besonderheiten in der Rahmengeometrie (Stack-To-Reach / Steuerrohr- und Sitzrohrwinkel / Steuerrohrlänge / Oberrohrlänge / Radstand)
  • Auswirkungen der Rahmengeometrie auf die Sitzposition
  • Auswirkung der Sitzposition auf die muskuläre Belastung und die allgemeine orthopädische Situation 

Und auch dem Hersteller bleiben wir zur besseren Orientierung für euch treu – ein CUBE BIKE in Rahmenhöhe 56 cm.

Das ZEITFAHRRAD erklärt!

von Jens Claussen

Rahmengeometrie eines Zeitfahrrads
CUBE Aerium C:68 TT (Frame Set / UCI-konform)


Maßkarte des CUBE C:68 TT bei Rahmenhöhe 56 cm

Geometrie des Zeitfahrrads

Werte der Rahmengeometrie für ein AGGRESSIVES Sitzen

  • Oberrohr: 565 mm
  • Sitzrohr-Winkel: 78°
  • Steuerrohr-Länge: 106 mm
  • Steuerrohr-Winkel: 72°
  • Radstand: 1013 mm
  • Stack: 518 mm
  • Reach: 421 mm
  • Stack-To-Reach: 1,23 (Stack bedeutet die normierte Höhe des Rahmens / Reach die normierte Länge des Rennrades -> Je kleiner der Koeffizient (Stack/Reach) ausfällt, desto sportlicher/unkomfortabler ist die Sitzposition -> ein Aero-Rad hat Werte um die 1,4 (und kleiner), ein Allrounder 1,45-1,50 und ein Komfort-Rad > 1,50)

ALLGEMEIN: ZEITFAHR-Geometrien haben oft…

  • SEHR kurze Steuerrohre 
  • Steilere Sitzrohre (um zwecks Kraftübertragung mit dem Knielot vor die Pedalachse zu kommen)
  • Einen DEUTLICH niedrigeren Stack-To-Reach Wert

-> Zeitfahrräder weisen Stack-To-Reach Werte von bis zu 1,10 auf!!

-> immer mit dem Ziel:

a) die Stirnfläche und damit den Luftwiderstand bestmöglich zu reduzieren (hier lassen sich übrigens durch eine optimierte Sitzposition deutlich mehr Watt herausholen als durch das Material!)

b) maximaler Speed mit möglichst viel Watt-Ersparnis


Was bedeutet das für die Sitzposition?

Durch die, im Vergleich zum Aero-Rad kleineren STR-Werte wird die Sitzposition – unabhängig von deren individuellen Einstellung – nochmals sportlicher und “aggressiver”.

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Dieses quasi „Liegen auf dem Rad“ erfordert eine höhere Beweglichkeit und ist gesamt betrachtet die größte muskuläre Herausforderung aller 3, in dieser Serie vorgestellten, Fahrrad Typen.

Dabei sollte bei der Einstellung ein guter Kompromiss zwischen nicht zu gestreckt und vor allem nicht zu überhöht angestrebt werden!

Bei einer zu starken Sattel-Lenker-Überhöhung muss die Hüfte noch stärker abgeknickt werden, was sich negativ auf die Kraftübertragung auswirken kann!

Durch den steileren Sitzrohrwinkel verschiebt sich unser Körperschwerpunkt nach vorne.

Das hat zur Folge, dass:

  • wir „vor dem Tretlager arbeiten“ 
  • sich unser Gesamtgewicht mehr nach vorne verlagert
  • das Rad kopflastiger wird und damit „zappeliger“ auf Lenkbewegungen reagiert 
Welche Winkel im Körper auf dem Zeitfahrrad

Was bedeutet das für die Beanspruchung unserer “Radmuskulatur”?

ROT = Primär beanspruchte Muskulatur BLAU = Sekundär beanspruchte Muskulatur

Muskulatur beim Radsport

  • Dem Kontaktpunkt Ellenbogen kommt eine höhere Bedeutung zu. Im Gegensatz zur “klassischen” Griffhaltung mit einem Drop-Lenker, wird ein Großteil des Gewichts von den Händen auf die Ellenbogen verlagert
  • …. Und damit folglich auch auf die Schultern. Die Ellenbogen-Position auf den Aufliegern lädt regelrecht dazu ein, die Schultern hochzuziehen (die Tendenz im Profi-Bereich führte sogar dahin, dass diese aktuell den Kopf nahezu zwischen Schultern verstecken)
  • Die Nackenmuskulatur muss vermehrt arbeiten, da die Position des Kopfes deutlich tiefer liegt als bei anderen Rädern. Dadurch geht der Blick mehr in Richtung Straße und die Halswirbelsäule muss regelmäßig überstreckt werden, damit wir immer wieder in Fahrtrichtung schauen können
  • Durch den aufliegenden Oberkörper verlagert sich die muskuläre Belastung des Hüftbeugers mehr auf die Gesäßmuskulatur. Diese muss durch die starke Vorbeugung vermehrt das Becken stabilisieren
  • Die untere Rücken- und Bauchmuskulatur (CORE-Muskulatur) ist in einer liegenden Position auf dem Aero-Lenker nochmals vermehrt gefordert. Sie gewährleistet mit ihrer Haltearbeit, dass wir stabil sitzen und nicht vom Sattel rutschen!
  • Der gesamten Armmuskulatur kommt mehr Bedeutung zu, da die Hauptaufgabe nicht mehr alleinig das Lenken beinhaltet, sondern die Haltearbeit eines Großteils unseres Körpergewichts 

Zielgruppe und Tipps für ein Zeitfahrrad

  • Ambitionierte Radsportler, die…
    1. Freude an Wettbewerben im Kampf gegen die Uhr haben
    2. Einen Sinn des Radfahrens im Kampf gegen sich selbst sehen
    3. Gierig darauf sind, ihre eigenen körperlichen Grenzen auszuloten und zu verschieben
    4. Den Schmerz beim Radfahren lieben
    5. Eine Erfüllung darin finden, immer wieder an Sitzpositionen zu tüfteln, um diese zu optimieren
  • Tipp 1: Vor dem Kauf eines Zeitfahrrades sollte man sich hinsichtlich seiner eigenen Beweglichkeit hinterfragen. Dafür ist auch ein sog. FMS (Functional Movement Screen) sinnvoll: Ein Testverfahren, bei dem mit 7 standardisierten Übungen eine verlässliche Aussage über die Beweglichkeit gemacht werden kann -> Functional Movement Systems
  • Tipp 2: auch wenn die Wettbewerbe für Zeitfahren recht rar gesät sind, sollte auf dem Zeitfahrrad regelmäßig trainiert werden. Nur so kann die Muskulatur immer wieder an diese spezielle Haltung erinnert werden 
  • Tipp 3: Zu einem regelmäßigen Training auf einem Zeitfahrrad gehören auch regelmäßig (mindestens 2x pro Woche) Mobilitätsübungen, als da wären:
    1. Übungen zum Öffnen der Hüfte
    2. Übungen für die Beckenkippung und -aufrichtung
    3. Übungen zur Öffnung der Brustwirbelsäule
    4. Dehnen der Gesäß- und Beinmuskulatur
Stretching nach der Tour
Mobility Übungen in unserem Mallorca Bikecamp
  • Tipp 4: das Zeitfahrrad auf jeden Fall von einem seriösen Bikefitter einstellen lassen (und diesen evtl. auch schon vor dem Kauf zu kontakten, sich von ihm vermessen und das Traumrad „absegnen“ zu lassen 
  • Tipp 5: Lasst euch nicht davon irritieren, dass ihr nach einem Zeitfahrritt zwischen den Beinen gewissermaßen gar nichts mehr spürt. Das hat man leider mitgebucht, denn: durch die starke Vorbeugung liegt unser Hauptkontaktpunkt auf dem Sattel im Genitalbereich! Da wird dann so ziemlich alles abgerückt, was abgedrückt werden kann …….

Fazit zum Zeitfahrrad

Die gekrümmte (gekauerte) Haltung auf einem Zeitfahrrad mutet für Außenstehende fast lächerlich an.

Und das nicht ganz zu Unrecht…

Weicht sie doch so sehr von der Körperhaltung im Alltag ab und ist damit aus orthopädischer Sicht wenig „gesund“.

Demgegenüber steht der Rausch der Geschwindigkeit, dem wir Rennradfahrer erlegen sind. Mal wieder ist der Kompromiss die goldene Mitte.

Sitzposition auf dem Zeitfahrrad
Sitzpositionen sind so individuell – in dieser Haltung kann ich 100 km beschwerdefrei fahren……

Euer Jens!

Fotos: privat, Herstellerfotos

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