Home » Kategorien » Lass es raus » Kantes Kolumne: Cycling 4.0 oder: Wann wurde aus Radfahren eigentlich Rocket Science?

Kantes Kolumne: Cycling 4.0 oder: Wann wurde aus Radfahren eigentlich Rocket Science?

by Daniel

Früher war alles besser – so ganz ohne Technik-Schnickschnack machte das Radfahren doch viel mehr Spaß! Auf die innere Stimme hören und so. Oder etwa nicht? So ein bisschen geil sind die ganzen technischen Tools wiederum schon, oder? Kante führt in der aktuellen Kolumne einen inneren Kampf gegen sich selbst.

Kantes Kolumne

Von Kante Kowalskyie (aus Mallorca)

Wir schreiben das Jahr 2018.

Wir haben einen US-amerikanischen Präsidenten vom anderen Stern, wir haben Amazon und Google zu den mächtigsten Konzernen der Welt werden lassen, eine Firma die Lifestyleprodukte herstellt, ist quasi über Nacht zur wertvollsten Marke der Welt geworden.

Und weil das alles noch nicht genug ist, muss ich auch noch mit Jedermann-Heißdüsen einen Rennradurlaub auf Mallorca verbringen.

Kurzum: Die Welt ist eine andere geworden. In meinen Augen, nicht unbedingt eine bessere.

Das hat einiges gemein mit dem Thema Rennradfahren.

Und was jetzt genau?

Tja Freunde. Aufgepasst!

Cycling 4.0 – eine Bestandsaufnahme

Schon mal den heutigen (nicht bei jedem) Standardprozess, der mit dem Rennradfahren ein- und vorhergeht, genauer unter die Lupe genommen?

Ich habe das mal für Euch gemacht:

Radfahren früher

  • Kette geölt? Check.
  • Genug Luft in den Reifen? Check.
  • Banane im Trikot? Check.
  • Sonne scheint? Check.  

Und ab die Post. Auf die Straße und los geht das.

Radfahren heute

Habe ich alle meine notwendigen Schritte auf einer Checkliste aus meinem Scrum Board auf mein Smartphone geladen oder in der Cloud syncronisiert.

Ist das alles Up to Date? Ist alles geladen?

Ja, du musst heute neben dem Carboloading auch noch etwa drölf Devices geladen haben – sonst geht da gar nix auf dem Hobel.

  1. Der Wahoo/Garmin/Polar oder wie auch immer Radquantenrechner
  2. Die Batterie am Brustgurt
  3. Die Wattmesserpedale
  4. Die Sportuhr am Handgelenk
  5. Die Schaltung
  6. Das Smartphone
  7. Die Kopfhörer
  8. Die Fahrt auf Instagram angekündigt?

So, das wären dann mal die Basics.

Wenn auch nur eins der Dinger nicht funzt, dann ist der Tag gelaufen und kein anständiger Velotist oder Randonneur oder wie auch immer man heutzutage heißen mag als Radfahrer, kann dann guten Gewissens auf die Straße.

Geschweige denn vernünftig und in Ruhe schlafen.

Aber wir sind ja noch nicht fertig.

Es ist ja noch nichts von alledem miteinander gekoppelt und kalibriert und via Bluetooth, zu einer Einheit verschmolzen, ohne die man sich im Hobbyleistungsfreizeitmaximalsportbereich, nicht mehr unter die Geleichgesinnten trauen darf.

Weil:

If it´s not on Strava, it never happened!

WTF??

Wenn dann sichergestellt ist, dass alle Akkumulatoren auf 100% stehen, alles miteinander verbunden ist und man einen Sicht-Check macht, wie ein Pilot vor einem Transatlantikflug, um alle blauen und roten Lichter an dem Hobel zu kontrollieren, kann es endlich losgehen.

Zur Info, an der Stelle sind aber schon mindestens 10 Minuten ins Land gezogen.

HA! Falsch!

Du hast ja den Wahoo Elemnt noch gar nicht die Einheit starten lassen!

Knöpfchen gedrückt und dann kann es aber jetzt auch wirklich losgehen.

Ein Cockpit wie eine Boing

Da ist die vom Coach Philip Diegner eingestellte Trainingseinheit. Jetzt nur nicht den 30 Sekunden Durchschnittswattwert aus den Augen verlieren.

Sonst wird das nix mit Platz 644 bei den Hintertupfinger Maisfeldmeisterschaften in der Hallertau…

[Unterwegs]

Es trackt und analysiert alles so vor sich hin.

Das GPS, die Herzfrequenz, die Wattleistung, die Geschwindigkeit und sogar die Schaltvorgänge werden angezeigt – weil, ohne das geht mal so gar nix.

Es gab Zeiten, da bin ich quasi im Suicide-Modus, aus heutiger Sicht, einfach losgefahren.

Da hab‘ ich gekurbelt wie ich konnte und wollte. Ich habe geschaltet, als meine Beine geschrien haben: SCHALTE, ALTA!

Ich wusste, wo ich langfahre und wenn ich müde war, hab‘ ich Pause gemacht.

Total verrückt, ich weiß!

Ein Wunder, dass ich das alles so überlebt habe all die Jahre!

Lucky Me. Lucky Kante.

Der Supergau aller Trainingsweltmeister tritt ein

Und wie ich so vor mich hinträume, von vergangenen Zeiten und von einer Welt, in der Radfahren wieder ohne ein IT-Studium auskommt und ich wieder ohne vier Stunden „CyclePrep“ einfach losbrenne, passiert es!

Der Supergau eines jeden Trainingsweltmeisters:

DIE PEDALE SENDEN KEIN SIGNAL!

Es gibt mich in diesem Moment leistungsmessungstechnisch also gar nicht mehr. Eine Lücke in der Aufzeichnung?

Strava? Trainingspeaks? Health? Wahoo?

NEIIIIIIIIIINNNNNNNNNNNN!

Was, wenn ich genau jetzt einen Strava KOM hätte landen können?

Was, wenn ich einen Flyby verpasst habe?

Wie soll ich das der Community erklären und was noch viel schlimmer ist:

Notfallplan während der Fahrt

Wie soll ich das vor mir selber rechtfertigen? Da muss man eben anhalten. Sofortiger Stopp aller Aktivitäten auf dem Rad.

Also den Notfallplan abspulen:

  • Pedale neu kalibrieren. Check.
  • App neu starten. Check.
  • Bluetoothverbindung neu. Check.
  • Wahoo an und wieder aus. Check.

Ein Riesenspaß in der prallen Sonne. Der mit Sonnencreme vermischte Schweiß tropft in die Brille und auf alle meine Gerätschaften.

Scheiße! Strava! Scheiße!

Das ist alles, was ich jetzt noch denken kann. Und an die Tatsache, dass ich, wenn das nicht gleich wieder alles funktioniert, ich den Tag auf dem Rad vergessen kann.

So bringt das nix. Ich fahre ja nicht zum Spaß hier rum.

Nur so rumfahren is nich!

Der ganze Space Shuttle-Scheiß am Rad und ich fahr nur so in der Gegend rum? Das kannst du vergessen. Mach ich nicht. Randonneur oder was?

Leck mich.

Das in der Zwischenzeit etwa 80 Radfahrer an mir vorbeigezogen sind und mich davon gerade mal drei gefragt haben, ob ich Hilfe brauche, ist eine andere Geschichte.

Hat wahrscheinlich eh keiner ein Studium in Software Engineering oder Luft- und Raumfahrttechnik von denen.

Zwecklos.

Aber die können wenigstens mit Ihrem Hobel fahren. Ich fühle mich wie ein Rollstuhlfahrer vor einem Trettabfalleimer.

Könnte schon irgendwie klappen, aber irgendwie ist das nicht Space Shuttle.

Radfahren ohne Tools! Nur die innere Stimme & Du!

Ich hab‘ den Quatsch satt. Ich schalte für heute mal alles aus. Sogar das Smartphone. Musik geht auch im Flugmodus. Mehr brauch ich heute nicht oder darf ich heute nicht brauchen.

Ich fahre nun also einfach so vor mich hin.

Komisches Gefühl, aber auch irgendwie befreiend. Ich höre so in mich hinein und lausche meiner inneren Stimme.

Sie sagt:

Das ist gut. Das sollte man öfter machen. Das könnten jetzt etwa 130 Puls sein oder so.

Meine Beine sagen: Schalt mal hoch. Da geht noch was.

Der Rest meiner sterblichen Hülle sagt:

Trink mal was, iss mal was, den Hügel da vorne nehmen wir jetzt Vollgas.

Ein Rollerfahrer!!!

YEAH. Attacke. Hinterher.

Ich fühle mich wie in 2006. Da hab‘ ich mit dem ganzen Radfahrdings angefangen.

Da hatte ich ein gebrauchtes Alurennrad und bis auf ein Notfallhandy, keinerlei Technik oder Pulsmesser oder ähnliches bei mir.

Das ging auch.

Kante’s Fazit

Wir leben in einer hochtechnologisierten Welt. Viele dieser Technologien haben uns das Leben leichter, sicher und bequemer gemacht – keine Frage.

Aber ist es wirklich eine Erleichterung, wenn wir uns vor und nach der Ausübung unseres Hobbys, mit Analyse von Leistungsdaten, Trainingsplänen, Akkuladungen, Anbauteilen, Devices und was weiß ich sonst noch alles herumschlagen müssen?

Sollten wir nicht eher dem Spaß an der Sache den Vorrang geben und wieder ein wenig mehr auf unsere innere Stimme hören?

Diese ist nämlich oftmals dann doch die bessere von allen.

Und was unseren Körper und unser Befinden anbelangt, um einige Datensätze reicher und schlauer als Alexa, Siri & Co.

Ich habe fertig.

Kante Kowalskyie

>> Folge Kante auf Instagram

Das könnte Dir auch gefallen: