Grausame Szenen bei Paris–Roubaix, dem wohl härtesten Radrennen der Welt: 148 km vor dem Ziel fällt der 23-jährige Radprofi Michael Goolaerts vom Rad und bleibt regungslos im Graben liegen. Zahlreiche Fahrer aus dem Peloton und Begleitfahrzeuge, die das Ganze vermutlich sehen, aber trotzdem weiterfahren. Helfen tut dem jungen Belgier erstmal keiner. Machen sie sich wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar? Mit Sportrechtler Hendrik Burbach diskutiere ich im Nachgang diesen Fall: Was sind die Folgen, vor allem für den Jedermannsport? Wann muss man anhalten und Erste Hilfe leisten, wann macht man sich strafbar?
Der tragische Tod des jungen belgischen Radprofis Michael Goolaerts überschattete nicht nur den Sieg von Peter Sagan bei der diesjährigen Ausgabe des Kopfsteinklassikers Paris–Roubaix, sondern regte auch die Debatte darüber an, ob für Radprofis und Amateur- bzw. Hobbysportler eine Pflicht besteht, bei Stürzen unmittelbar erste Hilfe zu leisten.
Im Fall Michael Goolaerts sorgte insbesondere die Tatsache für Brisanz, dass zahlreiche Kollegen im Peloton samt Begleitfahrzeuge am jungen Belgier vorbeifuhren, während dieser schwerstverletzt im Graben mit dem Leben rang (siehe Youtube-Link).
Traurig, aber wahr.
Eine schwierige Situation, über die wir in den Tagen nach Paris-Roubaix auf der SpeedVille Facebookseite (siehe Post) bereits äußerst kontrovers diskutierten. Die Meinungen bei dem Thema gingen sehr weit auseinander.
Schlussendlich sprach mich ein Leser an, ob ich aus dem Thema nicht einen Artikel machen möchte, der sich mit der aktuellen Rechtslage beschäftigt. Kurz vor der anstehenden Saison hätte man sehr gerne Klarheit.
Die Kernfragen dieses Artikels:
1) Wann muss man anhalten und helfen?
2) Was für Konsequenzen drohen, wenn man nichts macht?
3) Welche Verantwortung hat der Veranstalter?
Zu dem Thema habe ich mit Sportrechtler Hendrik Burbach gesprochen.
Unterlassene Hilfeleistung bei Radrennen – was lernen wir aus dem Fall Michael Goolaerts?
Hendrik, hätten die vorbeifahrenden Profis bei Paris–Roubaix anhalten müssen, als Michael Goolaerts im Graben lag und mit seinem Leben kämpfte?
Aus juristischer Perspektive lässt sich dieser Zwischenfall nach unserem jetzigen Kenntnisstand leider noch nicht abschließend beurteilen. Es sieht wohl danach aus, als resultiere der Sturz aus dem Herzstillstand des Profis. Zudem waren auch, entgegen erst anderslautender Mitteilungen, relativ schnell Ärzte bei dem Gestürzten.
Dem Grundsatz nach geht es aber bei den Rennen um die Frage, wann ein Radprofi anhalten muss, um erste Hilfe zu leisten und wann er ohne einzugreifen weiterfahren darf. Das deutsche Strafgesetzbuch (StGB) sieht in § 323c Abs. 1 StGB grundsätzlich vor, dass man bei Unglücksfällen Hilfe zu leisten hat, wenn dies erforderlich und nach den Umständen zumutbar ist.
Was für Konsequenzen würden drohen?
Das Strafmaß des § 323c Abs. 1 StGB sieht dabei eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr vor.
Was genau bedeutet das für die Profis im Einzelfall?
Dem Gesetzeswortlaut nach heißt das zunächst, dass man sich selbst für die Hilfe nicht in Gefahr bringen muss oder gegen andere wichtige Pflichten verstößt. Bei dem Unfall von Michael Goolaerts geht es dem Grunde nach bei der Beurteilung einer Strafbarkeit der vorbeifahrenden Fahrer objektiv zunächst darum, ob dies erforderlich und zumutbar gewesen wäre.
Erforderlich ist die Hilfeleistung wahrscheinlich dann nicht, wenn der gestürzte Fahrer dabei ist, sich aufzurappeln. Liegt er allerdings reglos und ohne medizinische Unterstützung im Graben, ist aus strafrechtlicher Perspektive ein Eingreifen der vorbeifahrenden Profis auf jeden Fall geboten.
Wann dies zumutbar ist, bedarf einer Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen. Hier lag der Fall ja anscheinend so, dass bereits Betreuer bei dem Gestürzten waren. Zudem müssen die Profis auch vorsätzlich gehandelt haben, das wäre dann anzunehmen, wenn sie den Gestürzten am Straßenrand ohne Betreuer gesehen hätten, und trotzdem weitergefahren wären.
Viele von uns Nicht-Profis fragen sich jetzt natürlich, wie man sich verhalten sollte, wenn man selbst an einem Unfall im Radmarathon oder Jedermannrennen vorbeikommt?
Dies kommt natürlich immer auf den konkreten Einzelfall an. Wird der Gestürzte bereits von Streckenposten oder Sanitätern versorgt, müsste man nicht anhalten, auch wenn dies natürlich stets zu empfehlen ist. Gerade bei langen Distanzen auf Radmarathons oder Jedermannrennen, bei denen keine permanente Überwachung der Strecke durch Streckenposten gewährleistet werden kann, ist es umso wichtiger, dass die Teilnehmer auf derartige Unfälle reagieren.
Zieht man egoistisch sein Rennen durch, drohen empfindliche Strafen. Schließlich handelt es sich, trotz ehrgeiziger Saisonziele und striktem Training, bloß um eine Hobbyveranstaltung, in der wir alle zum Spaß an der Startlinie stehen. Im Vergleich zu den Profis tritt daher auch der persönliche Rennerfolg im Rahmen einer Abwägung über die Notwendigkeit eines Anhaltens noch weiter hinter die Interessen des Opfers zurück, als dies bei den Profis der Fall ist, die im Rennen schließlich ihren Job ausüben.
Wie sieht es mit dem Veranstalter aus?
Viele Veranstalter schreiben in ihre Teilnahmebedingungen, dass medizinische Versorgung an der Strecke gewährleistet wird. Das entbindet aber den Teilnehmer aus strafrechtlicher Sicht noch nicht, Erste Hilfe zu leisten, wenn er einen Unfall sieht.
Was passiert, wenn der Gestürzte an den Folgen des Unfalls stirbt?
Verstirbt das Unfallopfer an den Folgen der Verletzungen, wie dies z.B. bei den Gippinger Radsporttagen 2014 in der Schweiz geschehen ist, könnten die zur Hilfeleistung verpflichteten Fahrer sogar wegen fahrlässiger Tötung verfolgt werden. Das kommt aber nur dann in Betracht, wenn bei einer vorherigen Hilfeleistung der Tod des Opfers vermieden werden könnte.
Gilt dies auch im Training?
Natürlich, gerade im Training sind die Anforderungen zum Anhalten womöglich noch geringer als im Rennen. Kann man im Wettkampf noch ein wenig darauf vertrauen, dass ein Streckenposten oder Sanitäter auf den Unfall aufmerksam wird, ist dies im Training nicht möglich.
Ich denke, jeder von uns möchte, dass wenn er einen Sturz oder Schlimmeres auf einer Trainingsfahrt in einer wenig befahrenen Region, wo das Radfahren ja auch am meisten Spaß macht, erleidet, der nächste, der vorbei kommt, anhält und uns hilft. Das gilt selbstverständlich unabhängig von dem Fortbewegungsmittel, auf dem ich unterwegs bin.
Was kann mir ansonsten drohen?
Neben möglicher Haftung für Sturzverursacher (Link) ist es auch möglich, dass Regressansprüche auf die anderen Fahrer, die keine Hilfe geleistet haben, zukommen können. Dafür müsste dem Geschädigten allerdings durch die unterlassene Hilfe ein Schaden entstanden sein. Ein solcher liegt sicherlich dann vor, wenn der Geschädigte an den Folgen des Unfalls und der unterlassenen Hilfe stirbt.
Weitere Artikel mit Hendrik Burbach:
– Doping im Jedermannsport und die strafrechtl. Konsequenzen (Link)
– Privatsphäre vs. Antidoping – was hat Vorrang? (Link)
– Unfall im Radrennen: Wie du den Schaden erstattet bekommst (Link)