Endlich. Morgen geht sie wieder los, diese verrückte Zeit, diese vier Wochen mit den hammercoolen Frühjahrsmonumenten. Wer den Radsport mag, muss diese Rennen lieben! Absolute Vollgasveranstaltungen. Ich sprach mit vier Experten über ihre aktuellen Tipps für Mailand–Sanremo: Wo fällt die Entscheidung – und vor allem für wen? Und siehe da, eine echte Überraschung ist auch dabei…
Ganz ehrlich?
Die nächsten vier Wochen sind die geilsten Wochen des kompletten Radsportjahres.
Zumindest für mich.
Einwöchige Rundfahrten oder langatmige Tour-de-France-Etappen – bis auf ein paar entscheidende Schlüsseletappen – langweilen mich eher. Das ist meist zäh, da passiert irgendwie nichts. Das Gelbe Trikot versteckt sich irgendwo im Hauptfeld, da kommt bei mir wenig Spannung auf. Und nen deutschen Klassementfahrer haben wir meist auch nicht. Einzige Ausnahme ist Tony Martin, der bei kleineren Rundfahrten wie der Algarve-Rundfahrt auch mal auf Gesamtsieg fährt.
Bei den Klassikern hingegen, insbesondere bei den Monumenten, sieht die Sache schon wieder ganz anders aus. Wie Jürgen Klopp sagen würde:
Vollgasveranstaltungen!
Das ist für die Jungs mit richtig Schmackes in den Beinen: Für die Sagans, Degenkolbs oder van Van Avermaets im Peloton – für die Jungs mit richtig Zug auf der Kette.
Besonderer Reiz für den Zuschauer? An diesem Renntag wird nicht per Taschenrechner und oftmals unverständlicher Bonifikation entschieden, am Ende des Tages gibt es einen Gewinner und der fährt vor den anderen ins Ziel. Fertig!
Gänsehaut garantiert.
Übersicht der Monumente und ihre Besonderheiten
Am morgigen Samstag geht sie also wieder los, diese ganz besondere Zeit der Frühjahrsmonumente. Ein Überblick der Rennen im März/April mit ihren Eckwerten:
Mailand–Sanremo (18.3.)
- Erstaustragung: 1907
- Distanz: 291 km
- Eurosport 2 überträgt live ab: 14:15 Uhr (aktueller Stand)
- Höhenmeter: ca. 1.800
- Letztjährigen Sieger: Arnaud Démare (2016) | John Degenkolb (2015) | Alexander Kristoff (2014)
Besonderheit:
Längstes Rennen der fünf Monumente. Lange, lange Zeit passiert recht wenig, bis erst der Anstieg zur Cipressa kommt (ca. 20 km vor dem Ziel) und im Anschluss der berühmt berüchtigte Anstieg zum Poggio (6 km vor dem Ziel), die letzte Möglichkeit für eine Soloflucht. Wenn die Soloflucht nicht gelingt, wird das Rennen meist in einem 20-30 Mann großen Sprint entschieden.
Flandernrundfahrt (2.4.)
- Erstaustragung: 1912
- Distanz: 260 km
- Höhenmeter: ca. 2.300
- Letztjährigen Sieger: Peter Sagan (2016) | Alexander Kristoff (2015) | Fabian Cancellara (2014)
Besonderheit:
Die Flandernrundfahrt ist sicherlich eins der härtesten Rennen überhaupt. Zahllose kurze und unglaublich steile Anstiege, gespickt mit fiesen Kopfsteinpflastern, machen den Fahrern das Leben zur Hölle. Die Zuschauer in Flandern sind extrem euphorisch, die Stimmung entsprechend grandios. Hier gewinnen meist tempofeste Puncheure, die die zahlreichen Anstiege gut wegstecken können.
Paris – Roubaix (9.4.)
- Erstaustragung: 1896
- Distanz: ca. 250 km
- Höhenmeter: ca. 1.750
- Letztjährigen Sieger: Mathew Hayman (2016) | John Degenkolb (2015) | Niki Terpstra (2014)
Besonderheit:
Die Hölle des Nordens. Wer hier gewinnen will, muss nicht nur unglaublich tempofest sein, er muss auch wahnsinnig gut Fahrrad fahren können, schließlich werden ca. 50 km der Strecke auf übelsten Kopfsteinpflastern gefahren.
Lüttich-Bastogne-Lütich (23.4.)
- Erstaustragung: 1892
- Distanz: 258 km
- Höhenmeter: ca. 4.500 (in 2016)
- Letztjährigen Sieger: Wout Poels (2016) | Alejandro Valverde (2015) | Simon Gerrans (2014)
Besonderheit:
Das älteste aller Monumente. Wer hier gewinnen will, muss schon deutlich bergfester sein als beispielsweise bei der Flandernrundfahrt. Die zahlreichen Anstiege sind sehr steil, meist kurz, gerne aber auch mal bis zu vier Kilometer lang. Also nichts mehr für die Sagans dieser Welt.
Mailand–Sanremo: Das tippen die Experten
Ich habe mich bei ein paar Experten umgehört. Welches Rennen ist ihr Lieblingsmonument? Welche Fahrer haben die Fachleute auf dem Zettel? Kann John Degenkolb nach seinem bösen Unfall im letzten Jahr wieder angreifen?
Die folgenden 4 Experten habe ich nach ihren Einschätzungen für Mailand–Sanremo und die Flandernrundfahrt gefragt – heute ihre Tipps für Mailand–Sanremo, nächste Woche dann für die Flandernrundfahrt.
David Binnig
(Chefredakteur RennRad)
"Ich würde mir wünschen, dass mal wieder einer alleine am Poggio wegfährt und es ins Ziel schafft!"
Philipp Diegner
(Coach & Rennanalyst)
"Ich erwarte eine Sprintentscheidung. Die hügelfesten Sprinter sind in den letzten Jahren immer zahlreicher geworden."
Felix Mattis
(TOUR & radsport-news.com)
"Ganz oben auf der Liste steht für mich Sagan – warum, das hat er bei Tirreno-Adriatico eindrucksvoll gezeigt."
Karsten Migels
(Moderator Eurosport)
"Ich rechne damit, dass die Entscheidung wieder auf der Zielgeraden fällt: 20-30 Fahrer, die den Sieg unter sich ausmachen."
Vorweg: Was ist dein Lieblingsmonument?
David Binnig (RennRad):
Die Flandernrundfahrt. Wahrscheinlich auch deshalb, weil ich schon vor Ort war und die Cyclo gefahren bin. Die Hellingen sind so viel steiler, als sie im Fernsehen aussehen. Und das Kopfsteinpflaster ist so viel übler, als man es sich als Nichtbelgier vorstellen kann. Lüttich-Bastogne-Lüttich sehen zu dürfen, ist aber auch ein Fest. Das Rennen ist so lang und so schwer, dass zwar am Anfang rumtaktiert wird, am Ende aber einfach die Stärksten übrig bleiben.
Philipp Diegner (Coach und Rennanalyst):
Die Flandernrundfahrt! Die einzigartige Atmosphäre an den Hellingen und der unvergleichliche Enthusiasmus der flämischen Fans macht das Rennen zu etwas ganz Besonderem.
Felix Mattis (TOUR und radsport-news.com):
Es ist schwer zu sagen, was ich am liebsten sehe, denn die Monumente haben allesamt ihre ganz eigenen Vorzüge. In San Remo zum Beispiel liebe ich es, wie sich über die Capos das Rennen zuspitzt und dann am Poggio Jahr für Jahr ein Feuerwerk abbrennt. Am „geilsten“ finde ich dann vor allem die Abfahrt auf der engen und winkligen Straße hinunter vom Poggio nach San Remo – da bleibt einem Jahr für Jahr das Herz stehen vorm Fernseher.
Bei Ronde und Roubaix hingegen gibt es eigentlich keinen „einen Moment“, denn die letzten zwei Stunden beider Rennen sind immer sehenswert. Am faszinierendsten finde ich es bei der Ronde, wenn es den Oude Karemont hinaufgeht und sich oben am Ende auf der N36 alle kurz umschauen, wer noch da ist – da lässt sich das taktische Element des Radsports förmlich fühlen.
Und in Roubaix? Naja, viele würden jetzt sicher vom Wald von Arenberg schwärmen, aber mein Favorit ist der Carrefour de l’Arbre. Das klingt schon so schön, und da trennt sich die Spreu vom Weizen: Wer hat die stärksten Beine?
Den erhabensten Klassiker-Moment aber hatte ich, als ich 2015 zum ersten Mal im Velodrom stand und die Gruppe um John Degenkolb einbog. Die Sekunden bis zu seinem Sieg werde ich wahrscheinlich nie vergessen.
Karsten Migels (Eurosport):
Mit Karsten Migels führte ich die Tage ein sehr interessantes Interview, welches in den nächsten Interview Sessions erscheinen wird. Bei der Flandernrundfahrt und Paris–Roubaix kam Karsten richtig ins Schwärmen.
Wo fällt bei Mailand–Sanremo die Entscheidung in 2017
David Binnig (RennRad):
Ich würde mir wünschen, dass mal wieder einer alleine am Poggio wegfährt und es ins Ziel schafft. Das wäre so ein richtiger Mann-Gegen-Feld-Cancellara-Gedächtnis-Showdown-Sieg. Fabian war 2008 der letzte, der so ankam. Sagan oder Van Avermaet könnten das. Aber vermutlich wird es wieder zum Sprint eines kleinen Feldes beziehungsweise einer größeren Gruppe kommen.
Philipp Diegner (Coach und Rennanalyst):
Ich erwarte eine Sprintentscheidung. Die hügelfesten Sprinter sind in den letzten Jahren immer zahlreicher geworden, siehe John Degenkolb, Alexander Kristoff oder Peter Sagan. Sie sind für mich auch in diesem Jahr die Favoriten.
Felix Mattis (TOUR und radsport-news.com):
Es riecht nach gutem Wetter in San Remo. Das muss zwar nicht, aber kann das Rennen etwas leichter machen. Deshalb würde ich auf einen Massensprint tippen. Allerdings ist mein Favorit Peter Sagan – und dem traue ich durchaus zu, dass er am Poggio und vor allem in dessen Abfahrt versucht, die anderen Sprinter abzuhängen.
Karsten Migels (Eurosport):
Ich rechne damit, dass die Entscheidung wieder mal auf der Zielgeraden fällt: 20-30 Fahrer, die den Sieg unter sich ausmachen – wie die letzten Jahre auch.
Die Topfavoriten für Mailand–Sanremo?
David Binnig (RennRad):
Die üblichen Verdächtigen: Peter Sagan scheint in dieser Saison noch stärker zu sein als 2016. Dasselbe gilt für Greg Van Avermaet. Sollten die beiden in derselben Gruppe ankommen, würde ich auf Sagan tippen. Obwohl es bei Omloop Het Nieuwsblad umgekehrt ausging.
Sagan und John Degenkolb sind meine Toptop-Favoriten. Aber: Der Rennverlauf ist nicht vorhersehbar – da die Strecke recht einfach ist, können sehr viele Leute gewinnen. Ein paar Favoriten mehr: Kristoff, Cavendish, Swift, Matthews, Démare, Bouhanni, Vivani, Boasson Hagen, Colbrelli.
Philipp Diegner (Coach und Rennanalyst):
Peter Sagan und Fernando Gaviria.
Felix Mattis (TOUR und radsport-news.com):
Ganz oben auf der Liste steht für mich Sagan – warum, das hat er bei Tirreno-Adriatico eindrucksvoll gezeigt. Allerdings sitzen ihm John Degenkolb und Greg Van Avermaet dicht im Nacken. Wenn es zum Sprint kommt, favorisiere ich sogar „Dege“ – oder doch Alexander Kristoff oder Fernando Gaviria?
Überraschen würde mich, wenn Top-Speed-Sprinter wie Mark Cavendish oder Caleb Ewan gewinnen, weil ich glaube, dass ihre oben genannten Kontrahenten dafür sorgen werden, dass das Rennen im Finale sehr schwer wird.
Karsten Migels (Eurosport):
Ich lege mich auf Fernando Gaviria fest.
Geheimtipps?
David Binnig (RennRad):
Fernando Gaviria ist extrem schnell. Er könnte der Joker im sehr stark besetzten Quickstep-Team sein. Er und Caleb Ewan, der zum ersten Mal in Mailand starten wird, sind die nächste Generation der Top-Sprinter. Die beiden werden aber nur vorne ankommen, wenn das Rennen nicht zu schwer gemacht werden wird.
Philipp Diegner (Coach und Rennanalyst):
Tom Dumoulin. Er hat sich zuletzt bei Tirreno-Adriatico sehr explosiv präsentiert und könnte einer der Kandidaten für eine Attacke am Poggio sein.
Felix Mattis (TOUR und radsport-news.com):
Es ist die Frage, wie geheim dieser Tipp noch ist, aber Gaviria dürfte noch nicht jedem etwas sagen. Mich wundert etwas, dass ihm bei Tirreno-Adriatico nicht viel gelungen ist, aber wenn er sich dort aufs „Vorbereiten“ für San Remo konzentriert hat, dann passt auf ihn auf! Ohne den Sturz im Sprint hätte er wohl schon 2016 den großen Coup gelandet!
Karsten Migels (Eurosport):
Ein Geheimtipp ist für mich in diesem Jahr John Degenkolb. Er ist zurzeit so gut drauf und auch so motiviert – das würde ich ihm zutrauen.
(c) Fotos der Experten im Artikel: David Binnig, Philipp Diegner, Felix Mattis und Hennes Roth (Karsten Migels)