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Wahnsinn! 60 Watt mehr in 6 Wochen: Warum invers polarisiertes Training dennoch mit Vorsicht zu genießen ist!

by Daniel

Kennt man: 80% der Einheiten finden im Grundlagenbereich statt, die restlichen 20% werden für hochintensive Intensitäten genutzt. Soweit die allgemeingültige Trainingslehre. Markus Hertlein ist einer der besten Jedermänner (12. beim Ötzi 2017) und Coach aus Salzburg. In diesem spannenden Selbstversuch zeigt der Sportwissenschaftler auf, was passiert, wenn das eben genannte Verhältnis umgedreht wird: 80% der Zeit an der Kotzgrenze und 20% sutsche. Klingt nach Wahnsinn? Ist es auch!

Invers polarisiertes Training

Von Markus Hertlein

Aus dem Leben eines Leidenden.

„Aaargh, 1 Minute vorbei….2 Minuten, die Hälfte ist schon vorbei! Komm Junge, kämpfen. Noch eine Minute…Aua!…Noch 10 Sekunden…Nochmal alles geben! Vorbei! Vorbei! Vorbei!“

AUA! Pause!

Was tust du hier eigentlich?! Berechtigte Frage.

Ich befinde mich am Ende der zweiten HIT-Woche. Über Nacht hat es einen halben Meter feinsten Powder geschneit und nun strahlt die Sonne vom tiefblauen Himmel:

„Touren gehen, Langlaufen, Joggen?“

„Es gäbe so schöne Alternativen…?! Aber nein 4×4‘ im Grenzbereich stehen heute auf dem Plan!“

Diese oder ähnliche Gedanken wird jeder, der ambitioniert Rad fährt, kennen. Aber bisher waren sie zumindest im Winter nur sporadischer Natur.

Doch nachdem die Saison seit Ende August vorbei ist, war die Motivation, Ende November meinen Körper mal wieder im Grenzbereich zu bewegen, schon wieder da. Dieser Grenzbereich sollte dann auch für die nächsten 6 Wochen mein täglicher Begleiter werden.

Anfang Dezember hatte ich dieses Vorgaben ja bereits auf SpeedVille.de (siehe Artikel) angekündigt, heute gibt’s Butter bei die Fische.

Was hat es gebracht? Wie viel Schmerzen hat es verursacht? Und wem seien diese Übungen dringend (nicht) empfohlen?

Trainingsaufbau: Invers polarisiert

Fangen wir vorne an.

Was ist eigentlich invers polarisiertes Training?

Einfach gesprochen, wird beim invers polarisierten Training die 80/20 Regel des polarisierten Trainingsmodells umgedreht: Sprich, es werden nur mehr 20% im niederintensiven und dafür 80% im hochintensiven Bereich trainiert.

Und so sah die Struktur des Trainings von meinen beiden Athleten Felix und Dominik und mir in den letzten 6 Wochen konkret aus:

iPOL Interventionsdesign

Die grobe Struktur hatte ich im letzten Artikel schon beschrieben. Natürlich mussten aber auch die genauen Protokolle der Einheiten zusammengestellt werden, schlussendlich kombinierte ich folgende Einheiten, bei denen alle Belastungen „Allout“ gefahren wurden.

  • Einheit 1: 4×4‘ / 3‘ Pause 
  • Einheit 2: SIT 10×30‘‘ / 5‘ Pause
  • Einheit 3: iHIT 2x10x40‘‘/20‘‘ / 10‘ Pause
  • Einheit 4: 3h GA @ 65% FTP

Welche Einheit war am heftigsten?

Die Kombination aus drei unterschiedlichen HIT-Protokollen diente einerseits der möglichst vielfältigen Beanspruchung, aber auch, um etwas Abwechslung in die ganze Sache zu bringen.

Wobei die heftigste Einheit sicher die 4×4‘ war, gefolgt von den 40/20ern, die 10×30‘‘ waren im Vergleich dazu schon fast eine „lockere“ Einheit. Die 3-stündige Grundlageneinheit diente zur Abdeckung der 20% niederintensiven Belastung.

Testergebnisse und Auswertung

Insgesamt kam jeder von uns auf 17 HIT-Einheiten in 38 Tagen. Wobei in einer Belastungswoche 4 HIT-Einheiten und eine lange niederintensive Einheit absolviert und in der Regenerationswoche 2 HIT-Einheiten und 1 lange Einheit absolviert wurden.

Die Pre- und der Posttest wurden auf einem Cyclus mit dem eigenen Fahrrad gefahren.

Das Testprotokoll legte ich mit 1min.-Stufen bei 40W Startleistung und 20W Steigerung/Minute fest.

Invers polarisiertes Training

Die Ergebnisse der Stufentests: Leistung, Laktat und VO2max

Die Ergebnisse nach 6 Wochen sind natürlich richtig cool und lassen die dafür nötigen Leiden recht schnell in Vergessenheit geraten. Eine Steigerung von knapp 50 Watt in 6 Wochen, genauso wie die Steigerung der VO2max um 5 ml/min/kg sind beachtlich.

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Spannend sind aber auch die deutlich angestiegenen Laktatwerte in der letzten Teststufe. Diese sind ein klarer Hinweis darauf, dass sich die Fähigkeit im hochintensiven Bereich zu fahren, positiv entwickelt hat – oder anders gesagt: Die Schmerzresistenz hat sich deutlich verbessert

iPOL Einheiten

Entwicklung der 4×4′ Einheiten

Eigene Meinung und das Feedback der Athleten

Wie schon in der Einleitung erwähnt, war das Training in den letzten 6 Wochen alles andere als Zuckerschlecken. Während der letzten eineinhalb Monate gab es nicht nur einmal den Moment, in dem ich mir die Sinnfrage gestellt habe.

W-A-R-U-M?

Gleichzeitig motivieren aber die Verbesserungen von Einheit zu Einheit enorm und auch das gute Gefühl, am Ende bzw. nach jeder Einheit, sich komplett ausgepowert zu haben, ist sehr zufriedenstellend und macht vielleicht sogar etwas süchtig.

Aus den Feedbacks meiner Athleten lässt sich Ähnliches herauslesen:

„Borg: 11 (Anm. BORG Skala = 1-10, Maß für Anstrengung) jeder 10er von vorher wird durch dieses Training abgewertet! Fuck war das vernichtend! Echt komplett an meine Grenze gegangen!“ oder „Frohe Weihnachten, du Mörder!“ oder „Borg: 9 – Eigentlich müsst ich bei jedem Training 10 schreiben, da ich echt bei jedem Training so am Limit gegangen bin, dass es gerade nicht zum speien ist.“

Nur, um dann am nächsten Tag folgendes zu lesen:„Die Euphorie ist pro Intervall immer mehr geworden…Es war einfach echt geil!“ oder „(…) Wahnsinn! Super leiwand!“ oder „Fühl mich schon wieder richtig gut, freu mich bei den nächsten Einheiten wieder alles zu geben.“

Wem hilft invers polarisiertes Training?

Invers polarisiertes Training

Nun aber zum wohl spannendsten Teil der ganzen Geschichte. Inwiefern ist das Ganze praxistauglich und wem kann das Ganze helfen, besser zu werden?

Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass invers polarisiertes Training jedem Athleten einen enormen Leistungsschub geben wird, egal ob erfahrener Radsportler oder Anfänger.

Jedoch sollten genau solche Dinge wie Ausgangsniveau, Vorerfahrung, Wettkampfziele, körperliche Vorrausetzungen, Verletzungshistorie usw. in die genaue Trainingsplanung miteinbezogen werden, um die Intensität und den Umfang des gesamten Blocks auf die Voraussetzungen des jeweiligen Athleten anzupassen.

Vor allem die persönlichen Ziele des einzelnen Athleten sind ein zu berücksichtigender Aspekt. Ein Sportler, der beispielsweise beim Ötztaler stark sein will, wird mit reinem HIT-Training nicht weit kommen, da ihm höchstwahrscheinlich die langen Einheiten im Fettstoffwechsel fehlen würden. Doch auch diese Fähigkeit soll laut einigen Studien (Perry et al., 2008, siehe Link) durch HIT verbessert werden.

Vielleicht ein spannendes Experiment für die Zukunft?

Abgesehen davon bin ich dennoch der Meinung, dass HIT allein nicht das Allheilmittel ist, vielmehr geht es darum, es als zusätzliches „Tool“ sinnvoll in die Jahrestrainingsplanung zu integrieren und mit anderen notwendigen Trainingsintensitäten zu kombinieren. Nach meinen persönlichen Erfahrungen und der damit übereinstimmenden Studienlage bin ich davon überzeugt, dass jeder, von Lizenzfahrer über Ötztaler-Starter bis hin zum reinem Hobbyfahrer ohne Rennambitionen, vom HIT-Training profitieren kann.

Meine Gründe für den Zeitraum über Weihnachten:

  • Abwechslung in den tristen Winter bzw. das Rollentraining bringen
  • Meine persönlichen Schwächen in den kurzen Leistungen zu verbessern
  • Das gesamtes Leistungsprofil auf ein neues Level heben

„Maximaler Nutzen mit minimalem Aufwand“

Diese viel zitierte Aussage ist sicherlich ein Riesenvorteil des Modells, aber genauso sollte man diesen „Vorteil“ mit ebenso großer Vorsicht genießen.

Viele beruflich und familiär sehr eingespannte Sportler sehen solch ein Modell evtl. als „Allheilmittel“ zur Lösung ihrer zeitlich begrenzten Trainingsumfänge. Wenn solche Sportler aufgrund ihres „Zeitmangels“ nun aber anfangen, einzig allein HIT zu trainieren, kann dieser Weg schnell in die komplett falsche Richtung führen.

Denn die hohen Intensitäten verlangen ein enormes Maß an Regeneration, welche nicht selten durch den stressigen Alltag negativ beeinflusst wird.

Wichtig: Gesundheitscheck im Vorfeld!

Für Rennfahrer mit Lizenz ist der alljährliche Check beim Arzt eh schon vorgeschrieben, doch auch für alle anderen Sportler, die solche Intensitäten in Training oder Wettkampf einbauen bzw. planen, ist eine sportärztliche Untersuchung im Vorfeld durchaus zu empfehlen.

Einfach, um auf Nummer sicher zu gehen.

Ebenso sind die hohen Belastungen, die auf den Bewegungsapparat einwirken, nicht zu unterschätzen und dementsprechend an die körperlichen Voraussetzungen des Einzelnen anzupassen.

Mein Fazit zum iPol-Versuch

Das invers polarisierte Trainingsmodell ist extrem spannend. Einerseits braucht es eine große Portion an Leiden-(schaft) und ein leichter Hang zum Masochismus ist sicher kein Nachteil.

Andererseits lassen die erzielten Resultate und die Zufriedenheit nach dem Training die Leiden sehr schnell vergessen.

Richtig und individuell angepasst, kann es meiner Meinung nach ein enorm effektives Tool zur Steigerung der Leistungsfähigkeit in vielen Bereichen sein. Der geringe zeitliche Aufwand macht das Ganze natürlich interessant für Sportler, die in bestimmten Zeiträumen zeitlich sehr eingespannt sind und wenig trainieren können.

Dennoch müssen gerade bei solchen Sportlern die individuellen Gegebenheiten abgeklärt werden, um so eine optimale Einbettung in den Trainingsplan zu gewährleisten.

Über Markus Hertlein:

  • Geb. 29.11.1992
  • Wohnort: Hallein (AUT)
  • Beruf: Trainer und Sportstudent
  • Auswahl der größten Erfolge:
    • 12. Platz Ötztaler Radmarathon
    • 1.Platz Gaisbergrennen (Amateure)
    • 2.Platz Int. Kitzbüheler Horn Rennen (Amateure)
    • 3.Platz ÖM-Berg (Amateure)
    • 2. Platz Race Around Austria Challenge (2er Team)

(c) Fotos: Markus Hertlein | Wattschmiede 

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