Acht Stunden dreißig setzten wir ihm per „Wette“ als Ziel, unter acht nahmen wir alle voll überzeugt nach kurzer Zeit an – am Ende war es knapp unter neun Stunden, die SpeedVille Reporter Christian Kratz bei seiner ersten Ötztaler Teilnahme benötigte. Ein sehr illustrer Bericht über Training, Motivation, ein Traumbike von Specialized und wahnsinnige Muskelkrämpfe beim größten Radmarathon im Alpenraum.
Von Christian Kratz
Zum ersten Mal in meiner noch kurzen Radkarriere komme ich mit guter Grundlagenform aus der Wintersaison.
Was bisher fehlt ist ein klares Saisonziel.
Ein Start beim Ötzi, das wäre schon was. Anfang Februar werfe ich also meinen Namen in die Los-Trommel. Aber der 8. März 2018 ist ein Tag der Ernüchterung. Wieder habe ich kein Glück bei der Startplatzvergabe.
So oft ich meinen Browser auch laden lasse, mein Name taucht auch bis zum späten Abend nicht in der Starterliste auf.
Einige Wochen später. Beim Kilometer sammeln unter mallorquinischer Sonne habe ich die Enttäuschung über den verpassten Startplatz schon beinahe vergessen.
Start beim Ötzi als SpeedVille Reporter
Zurück in München geht es mit Jonas und einer kleinen Gruppe zum Espresso nach Bad Tölz.
Daniel Müller von SpeedVille.de ist auch dabei. Auf der Rückfahrt kommen wir ins Quatschen. Wir sprechen über Training und eher beiläufig lass ich einfließen, dass ich gerne beim Ötzi starten würde.
Wie sich herausstellt, hat Daniel zusammen mit Coach Philipp Diegner zum Ötzi Thema bereits einiges in Planung.
Das Ziel: Speedville Lesern und Ötzi Startern einen maßgeschneiderten 3-Monats-Trainingsplan zu bieten, um sie perfekt auf das Rennen Anfang September vorzubereiten.
Was aber noch fehlt, ist eine passende Ötzi Story für den Blog. Daniel selber wird dieses Jahr nicht nach Sölden fahren, dafür fehlt die Form.
Aber eine in Daniels Worten, „Heißdüse“ wie ich, wäre da eigentlich genau richtig.
Startplatz beim Ötzi, Coaching von Philipp Diegner?
Ich bin dabei, wo muss ich unterschreiben? Und dann ist es offiziell.
Ich werde Anfang September für Speedville beim Ötzi starten.
Trainingsplan von Philipp Diegner
Mitte Mai startet das gemeinsame Training mit Philipp.
Dass von Daniel gesteckte Ziel: Finish unter 8:30 Stunden. Der grobe Fahrplan ist schnell gesteckt. Seit einigen Wochen trainiere ich mit Leistungsmesser und meine Strava Aufzeichnungen der letzten Wochen geben Philipp einen guten Eindruck meines Leistungsstandes.
Sub 8:30 Stunden mit 4,3 W/kg
Zu Beginn des Trainings liegt meine FTP bei ca. 320 Watt, bei einer Größe von 1,82 m und 73 kg. Mein Ziel wäre die FTP bis Anfang September auf 340 Watt zu steigern und idealerweise noch etwas an der Gewichtsschraube zu drehen.
Damit sollten die Sub 8:30h eigentlich „locker“ drin sein.
Ich kalkuliere mit 12 Trainingsstunden pro Woche, die ich mir neben Job uns sonstigen Verpflichtungen realistisch für das Training freischaufeln kann.
Laut Philipp perfekt für das was wir vorhaben.
Trainingssteuerung per TrainingPeaks
Die Trainingssteuerung läuft über die Online-Plattform Trainingspeaks. Die Zeit bis zum Ötzi ist in drei Blöcke mit unterschiedlichen Schwerpunkten aufgeteilt.
Der grundsätzliche Ablauf ist denkbar einfach.
Philipp stellt mir mit etwa ein bis zwei Wochen Vorlauf die neuen Einheiten ein und ich fahre die Programme möglichst exakt nach. An Intervalltagen mit vielen Intensitätswechseln lade ich mir das Trainingsprogramm auf meinen Radcomputer.
Damit habe ich, ähnlich wie bei Zwift, das genaue Programm im Soll/Ist-Vergleich vor mir und ich kann in Realtime meine Leistung verfolgen.
Subjektiv habe ich zunächst tatsächlich das Gefühl, weniger zu trainieren als zuvor, ein Trugschluss.
Mehr Struktur im Training, weniger Langeweile
Stattdessen ist das Training einfach besser verteilt. Die Einheiten unter der Woche werden tendenziell kürzer, dafür regelmäßiger und strukturierter.
Die Wochenenden sind wie bisher auch für lange Ausfahrten eingeplant. Eine große Gefahr beim Training auf ein solches Event, ist, dass zu Beginn einfach zu viel und zu intensiv trainiert wird.
Klar, die Motivation ist entsprechend groß. Mir hat die Trainingsplanung von Philipp in dieser Hinsicht extrem geholfen. Über die Wochen ist sehr klar ersichtlich, dass Philipp ganz genau darauf achtet, dass mein Trainingstress-Level nicht zu hoch steigt.
Dadurch habe ich nie wirklich das Gefühl, richtig fertig oder ausgepowert zu sein, wie es sonst zuweilen der Fall war.
Erster Formcheck: Tannheimer Tal Radmarathon
Anfang Juli beim Tannheimer Tal Radmarathon gibt es dann einen Zwischentest unter Rennbedingungen.
Hier zeigen sich die ersten Trainingsfortschritte.
Ich lande auf Gesamtrang 58.
Bis zur Ötzi Form fehlt aber noch einiges. Von nun an wird das Training intensiver. Der Fokus im folgenden zweiten Trainingsblock liegt auf VO2max Intervallen bis 120 Prozent der Schwelle.
Mitte Juli geht es mit der Familie für fünf Tage nach Südtirol. Streckenbesichtigung steht auf dem Plan.
Auf zwei Etappen fahre ich zusammen mit meinem Vater die Ötzi Runde ab. Auch er wird am 2. September zum ersten Mal am Start stehen. Der Kurs hat es zweifelsfrei in sich und ich kehre mit frischgewonnenem Respekt vor der Strecke aus Südtirol zurück.
Gleichzeitig gibt mir das nochmal ordentlich Motivation für den letzten Trainingsblock. Auch hier entwickelt sich meine Leistung nach Plan.
Ziel bis zum Ötzi: 340 Watt an der Schwelle
Eine FTP von 340 Watt zum Renntag ist realistisch, das Gewicht liegt aktuell bei 72,5kg. Insgeheim heißt mein Ziel mittlerweile „unter 8 Stunden“.
Mitte August kommt die Nachricht, auf die ich lange gehofft habe.
Traumbike für den SpeedVille Reporter: Specialized Tarmac SL6
Specialized sagt mir für den Ötztaler ein Leihrad zu: das S-Works Tarmac SL6. Eine Carbonrakete mit unter 6,5kg Trockengewicht; die perfekte Waffe also für den Ötztaler Radmarathon.
So lieb und teuer mir mein drei Jahre altes Canyon Aluminium Rad auch ist, das Tarmac spielt einfach in einer ganz anderen Liga.
Supersteifer Antritt, Vortrieb ohne Ende, messerscharf und präzise in den Abfahrten. Ein Traumrad, das es verdient hat, hier in Kürze einen extra Artikel zu erhalten.
Bald dann auf SpeedVille.
Tapering vor dem Ötzi
In der Woche vor dem Ötztaler wird das Trainingsvolumen auf ein Minimum reduziert.
Tapering ist angesagt.
Das Training ist durch, ab jetzt heißt es regenerieren und gesund bleiben.
Da bleibt plötzlich viel Zeit für andere Themen – zum Beispiel das Wetter. Seit Tagen scanne ich, wie wahrscheinlich 4000+ andere Starter, den Wetterbericht für Sonntag, den 2. September.
Leider verschlechtert sich die Vorhersage von einem Tag zum nächsten.
Die Temperaturen fallen weiter, die Regenwahrscheinlichkeit liegt mittlerweile bei 90 Prozent. Da trainierst du durch einen der heißesten und trockensten Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnung und dann das.
Aber hey, schon klar, auch das gehört dazu.
Das Wetter war von vornerein immer eine der ganz großen Unbekannten. Ich versuche es sportlich zu sehen. Auch wenn damit die Wahrscheinlichkeit eines Sub 8h Ötzis natürlich deutlich sinkt.
Mit dem Wetter-Thema stellt sich plötzlich noch eine andere Frage.
Kritisches Thema: Klamotten beim Ötzi um den Gefrierpunkt
Was ziehe ich am Renntag an?
Bis zum Anreisetag habe ich noch immer keinen genauen Plan und so trete ich mit mindestens einer Tasche mehr die Reise nach Sölden an.
Begleitet werde ich von meiner Freundin. Vor Ort werden wir meinen Trainingskollegen und Freund Jonas Leefmann und weitere Starter aus München treffen.
Noch auf der Fahrt schickt jemand eine Whatsapp Nachricht in unsere Gruppe, der Text: „Im Fernsehen kommen Horrorfilme…“.
Darunter: Wetterbilder vom Timmelsjoch und Hohe Mut. Auf 2600 Metern geschlossene Schneedecke bei -1,3 Grad.
Na dann.
Ankunft in Sölden
In Sölden treffen wir meine Eltern. Gemeinsam holen wir die Startunterlagen ab. Dann fahren meine Freundin und ich weiter nach Obergurgel in unsere Pension.
Das Haus liegt direkt an der Straße, über die wir am nächsten Tag vom Timmelsjoch nach Sölden fahren.
Auf dem Weg zur Pension fahren wir den gezuckerten Gipfeln der Ötztaler Alpen entgegen. Irgendwie riecht es eher nach Skiurlaub als nach Radmarathon. Egal, ab ins Bett jetzt und eine Mütze Schlaf bekommen.
Start aus Block 1C
4:15 Uhr, der Wecker klingelt.
Um kurz nach 5 Uhr lenke ich unser Auto durch Sölden, auf dem Weg zum Hotel meiner Eltern. Dabei kommen wir am Startbereich vorbei.
Und tatsächlich stehen hier bereits die ersten Wahnsinnigen, um sich die besten Plätze zu sichern.
Total verrückt.
Aber ich hab gut reden, mit meinem „Journalisten-Starplatz“ von SpeedVille darf ich im Startblock 1C starten, direkt hinter den VIPs und den schnellsten Fahrern der letzten Jahre.
Punkt 6:20 Uhr steige ich aufs Rad und rolle Richtung Startbereich.
Noch ist es ist trocken, die Temperatur durchaus erträglich. Die Kleiderwahl ist schlussendlich auf Merino Unterhemd, Trikot, Armlinge, Knielinge, Perfetto Weste und Regenjacke, Handschuhe und Überzieher für die Radschuhe gefallen.
Dazu habe ich 5 Gels, 2 Riegel, 8 Salztabletten und zwei volle Trinkflaschen, eine mit „Stoff“ und eine mit Wasser dabei. Das muss erst mal reichen.
Kurz nach Innsbruck warten dann meine Freundin und meine Mutter, um uns mit Nachschub zu versorgen.
Im Startbereich reihe ich mich ein in das Meer aus bunten Regenjacken.
Irgendwo da vorne in 1B muss Jonas stehen.
Ich kann ihn aber nicht erkennen. Dann ertönt das laute Knattern des Hubschraubers, der plötzlich über Sölden kreist. Die Musik wird lauter. Der Countdown läuft. Von zehn wird lautstark rückwärts gezählt.
Mit Kanonendonner geht’s los!
Um Punkt 6:45 Uhr knallt die Kanone.
Die Startphase ist hektisch, nervös, unrhythmisch. Kurz nach Sölden hat sich das Feld zwar etwas beruhigt, aber die Stimmung bleibt angespannt.
Einige hundert Meter voraus das Blaulicht des Führungsfahrzeugs. Weiter unten im Tal sind die Straßen wieder feucht.
Hektische Abfahrt nach Oetz
Quietschende Bremsflanken und ein Feld aus Fahrern, das bei jeder Kurve, jedem Kreisverkehr und jeder Verkehrsinsel gestaucht und dann wieder auseinandergezogen wird.
Dabei erreichen wir Geschwindigkeiten von über 70km/h. Von hinten drängen die schnellsten Fahrer des 2. Startblocks nach vorne. Suchen Lücken wo keine sind.
Bei Tempo 65 werde ich von links hinten gerammt und komme heftig ins Schlingern.
Gerade so schaff ich es im Sattel zu bleiben. Das war super knapp, mega unnötig und einfach nur scheiße gefährlich!
Da nützten mir die entschuldigenden Handzeichen des Kollegen wenig. Vielleicht wäre er beim Eishockey besser aufgehoben.
Erste Hürde: Anstieg zum Kühtai
Nach gut 38 Minuten erreiche ich im geschlossenen Feld Oetz. Am bekannten Kreisverkehr geht es rechts ab. Hier beginnt der erste Anstieg des Tages, das Kühtai.
Auf einer Strecke von 18,5 Kilometer sind 1200 Höhenmeter zu bewältigen, mit Rampen von bis zu 18%.
Bereits direkt nach dem Abzweig staut es sich.
Vorher noch Stau nach dem Kreisverkehr
Von hinten drückt die Masse an Fahrern nach. Ich nutze den Tumult zum trinken, umrunde dabei einen Fahrer, dem offensichtlich die Kette abgesprungen ist und versuche in den nächsten zwei Minuten meinen Rhythmus zu finden.
Dabei kontrolliere ich penibel genau die Leistungsanzeige. Die Gefahr ist groß gleich am Anfang zu überziehen.
Du bist voll mit Adrenalin von der Abfahrt und fühlst dich frisch.
Philipp mach’ langsam, du fährst dich kaputt!!!
Schreit irgendjemand weiter hinten. Philipp scheint nicht zu hören, denn so geht das noch eine ganze Weile weiter, bis ich außer Hörweite bin.
Ich finde relativ schnell einen guten Tritt. Sammle fleißig Fahrer ein und bald hat sich eine kleine Gruppe aus Fahrern mit ähnlichem Tempo zusammengefunden.
Je höher wir steigen, desto schlechter wird die Sicht.
Die Wolken hängen tief und bald setzt anhaltender Niesel ein. Ich setzte meine Sonnenbrille ab und klemme sie mir in den Helm um bessere Sicht zu haben.
Der Längental Stausee hängt vollkommen im Nebel. Langsam sind wieder mehr Zuschauer am Straßenrand. Ein Zeichen, dass die Passhöhe nicht mehr weit sein kann.
Das letzte Stück ist nochmal eine kurze giftige Rampe von 15 Prozent. Dann bin ich oben. Erst jetzt bemerke ich, dass der Regen deutlich zugenommen hat.
Kritischer Teil: Abfahrt vom Kühtai im Nebel
Der wirklich anspruchsvolle Teil beginnt jetzt. Die Abfahrt vom Kühtai ist bei trockenen Bedingungen was für Geschwindigkeitsrekorde.
Lange Geraden, keine wirklich engen Kurven und weitestgehend gut einsehbar.
So die Theorie.
Bei Nebel im strömenden Regen und exakt 2 Grad sieht das etwas anders aus. Der Regen kommt nicht nur von oben. Die Reifen meines Vordermanns und meine eigenen Gummis verwirbeln das Wasser in alle Richtungen.
Die Sicht ist miserabel. Meine Brille ist mittlerweile auch innen voll mit Wassertropfen und absolut nicht zu gebrauchen. Die Carbonfelgen meines Tarmac, so steif, so leicht, so genial bei Trockenheit, sind hier absolut nicht in ihrem Element.
Vor jeder Kurve heißt es erst mal den Wasserfilm runterbremsen, bevor überhaupt irgendeine Verzögerung zu spüren ist.
So arbeite ich mich von Kurve zu Kurve, von Weidegitter zu Weidegitter nach unten. Kein Risiko, das habe ich mir für die Abfahrten heute fest vorgenommen.
Ab und an pfeifen Fahrer vom Team Strassacker und Co. wie auf Schienen an mir vorbei – Respekt, keine Ahnung wie die das machen.
Erstes Zucken im Bein
Im unteren Teil der Abfahrt kann ich dann tatsächlich wieder den ein oder anderen Fahrer einsammeln, bis plötzlich die Innenseite der Oberschenkel anfängt zu zucken.
Ganz langsam, aber unverkennbar kündigt sich der Krampf an.
Ich muss Druck vom Pedal nehmen und die drei Fahrer vor mir ziehen lassen. Bei Kematen dreht die Strecke nach Osten und nimmt Kurs auf Innsbruck.
Langsam, ganz langsam lockern sich meine Oberschenkel wieder und ich kann wieder mehr und mehr Druck aufs Pedal geben.
Plötzlich bemerke ich, dass ich mittlerweile eine 15 Mann starke Gruppe in meinem Windschatten hinter mir herziehe.
Ich gebe Handzeichen und gehe aus dem Wind. Jetzt beruhigen sich die Oberschenkel endgültig und auch die Gruppe läuft.
Innsbruck
So erreichen wir Innsbruck.
Im Kopf bereite ich mich auf die Flaschenübergabe mit meiner Freundin und meiner Mutter vor, die sich hier am Beginn der alten Brennerstraße in einer Kurve positioniert haben.
Ich gebe nochmal Gas, arbeite mich in der Gruppe nach vorne und halte mich ganz am rechten Rand. Die Übergabe funktioniert reibungslos.
Auch die Gels an den Flaschen bleiben kleben und nach einem kurzen Zwischensprint habe ich wieder Anschluss an die Gruppe, die mittlerweile auf 20 Mann Stärke angewachsen ist.
Die Gruppe arbeitet gut.
Knapp 20 Minuten hinter der Spitze
Ein Zuschauer brüllt uns etwas entgegen:
19 Minuten hinter der Spitze!
Läuft.
Am letzten Anstieg zum Brennerpass können wir die Lücke zur Gruppe davor endgültig schließen. Unter der Brennerautobahn haben zahlreiche Teams und Begleiter ihre Stationen aufgebaut und feuern kräftig an.
Eine Bombenstimmung.
Auf nassen Straßen geht es weiter in die Abfahrt nach Sterzing. Und dann plötzlich, wie aus dem Nichts, trockener Asphalt. Eine Wohltat.
Anstieg zum Jaufenpass
In 10-Mann-Formation nehmen wir Kurs in Richtung Jaufenpass.
Vor mir ein Fahrer, der bei der letzten Hosenwäsche offensichtlich etwas zu viel Waschmittel verwendet hat. An Sattel und Hinterteil überall Schaum.
Ich reiße mich von dem Anblick wieder los und konzentriere mich auf den in Sicht kommenden nächsten Anstieg.
Der Anstieg zum Jaufenpass: 15,5 km lang, 1130 Höhenmeter, ein vergleichsweise gleichmäßiger Anstieg.
Trotz der kühlen Temperaturen, zwinge ich mich zu regelmäßigem Trinken und Essen. Neben mir fährt Luca. In neongelben Teamfarben.
Sub 8 Stunden noch möglich
Er spricht mich auf das Tarmac an.
Wir kommen ins Quatschen. Luca fährt seit 12 Jahren Lizenzrennen, erzählt er. Er war letztes Jahr schon dabei beim Ötzi: 7:45 Stunden.
Ich frage ihn, was er denkt, was zeitlich heute noch zu holen ist. Er schaut auf seinen Wattmesser. Bei weiterhin 280 Watt im Schnitt, einer zügigen Abfahrt nach St. Leonhard und einer ordentlichen Zeit am Timmelsjoch hält er „Sub 8h“ noch im Bereich des Möglichen.
Aber der Weg ist noch lang.
Das ist mein Stichwort, ich zücke das nächste Gel. Und fische nach einer Salztablette in meiner Trikottasche.
Gedanklich bereite ich mich schon auf die Abfahrt nach St. Leonhardt und auf den Anstieg zum Timmelsjoch vor. Mittlerweile habe ich die Baumgrenze passiert, vor mir ist bereits die Passhöhe zu erkennen.
Auf halber Strecke dorthin, in der Kurve des Berggasthof Jaufenhaus, läuft laute Musik. Ein großer Red Bull Bogen ist über die Straße gespannt und eine kleine Traube an Zuschauern hat sich hier versammelt, die Lautstark anfeuern.
Ein BMW-Cabrio überholt mich.
Auf dem Rücksitz ein Kameramann, der mit seiner Linse direkt in meine Richtung zielt. „Ein bisschen Einsatz zeigen“, denke ich mir und geh dynamisch aus dem Sattel.
Essen an der Labestation – egal was
Erst im letzten Moment registriere ich, dass sie scheinbar die Labestation vorverlegt haben. Mein Plan war hier das erste und einzige Mal zu stoppen, um meine Flaschen wieder aufzufüllen.
Ich ziehe etwas abrupt an den Bremsen und komme wenig elegant zum Stehen. Eine der Helferinnen lächelt mich freundlich an. Was ich gerne hätte.
Ja, was will ich eigentlich?
Ich hab plötzlich keine Ahnung mehr, verdammt!
Ich strecke ihr meine dreiviertel volle Wasserflasche entgegen und wiederhole einfach das letzte was sie mir gerade gesagt hat: Iso.
Na dann also Iso.
Ich stopf mir noch das Nächstbeste in den Mund, was ich greifen kann, eine Art Muffin wie sich herausstellt, und mache mich wieder auf den Weg.
Was für eine Helden-Aktion. Das hätte ich mir echt sparen können.
Ich brauch noch bis zur Passhöhe, bis ich den Muffin endlich geschluckt habe. Oben überlege ich kurz: Jacke oder nicht?
Ach was, es hat den ganzen Jaufen-Anstieg nicht mehr geregnet, die ersten Kehren der Abfahrt sind bereits am abtrocknen, außerdem habe ich gerade genug unnötig Zeit liegen lassen.
Der Anfang vom „Ende“: Krämpfe in der Abfahrt vom Jaufenpass
So bleibt die Regenjacke, also wie bisher, schön verpackt in der Trikotasche und ich stürze mich direkt in die Abfahrt.
Das kühne Ziel: Bei halbwegs abgetrockneten Straßen in 22 Minuten in St. Leonhard zu sein. Ja, sollte natürlich ganz anders kommen.
Die ersten zwei Kehren fühlen sich noch okay an. Der Fahrtwind ist kalt, aber durch den Windstopper der Weste erträglich, das ist zumindest meine Einschätzung der Situation in diesem Moment.
Meine Oberschenkel sind anderer Meinung und machen mir das auch unmissverständlich klar. Der Krampf schießt mir schon bei der dritten Kehre in die Beine.
Schmerzen links, Schmerzen rechts
Bei jeder Gewichtsverlagerung pendelt der Schmerz von links nach rechts. Hinzu kommt, das mit der Baumgrenze auch der Nebel zurückkommt – und die Feuchtigkeit.
Im Gegensatz zur Kühtai-Abfahrt ist die Abfahrt vom Jaufenpass technisch deutlich anspruchsvoller. Viele enge Kurven, Passagen mit sehr schlechtem Asphalt, mit Quer- und Längsrillen, die selbst bei guter Sicht mit Vorsicht zu genießen sind.
Heute sehe ich zum Teil keine 30 Meter weit. Und der Nebel wird immer dichter, von der Straße spritzt Wasser auf und mit der Nässe kommt auch die Kälte. Gift für meine krampfenden Schenkel.
Ich muss anhalten, mitten in der Abfahrt. Verzweifelt versuche ich wieder Kontrolle über meine Muskulatur zu bekommen. So richtig will es mir nicht gelingen. Im Schneckentempo eiere ich mit großer Mühe die restlichen Kilometer nach St. Leonhard hinunter.
Die Stimmung der Zuschauer hier unten ist fantastisch. Jeder einzelne der ausgefrorenen Fahrer, der hier passiert, wird mit tosendem Applaus empfangen.
Und jetzt warten noch knapp 30 km Anstieg bis zum Timmelsjoch… Prost Mahlzeit!
Einerseits tut es gut nach der Abfahrt wieder Bewegung in die Kurbel zu bekommen, aber ich spüre schon, die Krämpfe werde ich heute nicht mehr los. Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen, um 30 Kilometer bergauf aufs Timmelsjoch zu fahren.
Zu Beginn des Anstiegs kann ich immerhin noch einen Schnitt von 245 Watt halten. Nach knapp 1:30 Stunden bin ich gezwungen das erste Mal anzuhalten.
Ich versuche die Beine wieder etwas zu lockern und nutzte den Stopp für eine Pinkelpause.
Labestation Schönau – oder: Massagestation Schönau
Auf die Minute kommt’s heute wirklich nicht mehr an. Leider hat der Stopp diesmal muskulär überhaupt keine Besserung gebracht. Mir geht’s danach bescheidener als zuvor und wenige Minuten später erreiche ich gerade so die Labestation Schönau.
Ich kann kaum stehen.
Einer der Helfer nimmt mir freundlicherweise das Rad ab. Genau in diesem Moment sportlicher Erniedrigung kommt mir ein Typ mit Kamera entgegen. Das hat mir jetzt noch gefehlt, Max Moebus von Shakedown.
Mit ihm und Daniel hatte ich Ende Mai zum Beginn meiner Ötzi Story ein gemeinsames Video-Interview aufgenommen, in dem wir das Projekt „Road to Ötzi“ vorgestellt hatten.
Max grinst über beide Ohren und hält mir die Kamera ins Gesicht. Irgendwie kann ich nicht anders und muss auch grinsen.
Als meine Krämpfe einfach nicht nachlassen wollen, winken mir zwei Physiotherapeuten aus einem Zelt ein paar Meter versetzt freundlich entgegen und bevor ich weiß wie mir geschieht, liege ich ausgestreckt auf einer Massageliege.
Knielinge runter-, Radhose hochgeschoben und schon machen sich die beiden Physios über meine Oberschenkel her.
Immer dabei: Max mit seiner Kamera.
15 Minuten Liegezeit
Das ganze kommt mir wie ein seltsamer Traum vor. Wie lange ich da auf der Liege lag?
Keine Ahnung, Strava sagt später: 15 Minuten.
Mir kommt es in diesem Moment vor wie eine Ewigkeit. Spätestens jetzt habe ich mit dem Thema Zielzeit vollends abgeschlossen.
Jetzt geht’s nur noch darum, heil über diesen Berg und ins Ziel nach Sölden zu kommen.
Und ich merke plötzlich: Ich muss weiter!
Ich bedanke mich bei meinen supernetten Masseuren, verabschiede mich von Max und mache mich wieder auf den Weg.
Langsam, stetig, so wie es die Muskulatur eben zulässt.
Höhenmeter, die richtig weh tun!
Erst 210 Watt dann 200 Watt. Die letzten Serpentinen liegen im dichten Nebel. Es ist kalt. 190 Watt, 180 Watt und die Trittfrequenz fällt auf Kniebrecher-Niveau.
Endlich kommt der Tunnel in Sicht. Ich halte nochmal an und hole zum ersten Mal die Regenjacke raus.
„Da hast du ihn, deinen Traum“, lese ich noch aus den Augenwinkeln, als ich die Passhöhe erreiche.
Dann geht’s in die Abfahrt.
Langsam, ohne Risiko, nur einfach heil nach unten kommen. Beim Gegenanstieg zur Mautstation fahre ich auf eine kleine Gruppe auf. Plötzlich hebt einer der Fahrer die Hand und schreit: „Krampf! Krampf!“.
Das nenn ich Solidarität!
Abfahrt nach Sölden – gleich ist’s geschafft!
Während der Abfahrt ins Ötztal blinzelt dann tatsächlich für einen Moment die Sonne durch die Wolken. Auf einer Handvoll Kehren ist der Asphalt abgetrocknet, das gibt Sicherheit.
Es geht durch Obergurgel an unserer Pension vorbei, nach Zwieselstein und da finde irgendwie das Hinterrad eines anderen Fahrers und gemeinsam rollen wir in Sölden ein, die Hauptstraße entlang, jetzt nur noch die 90 Grad Kurve nach rechts und über die Brücke und – das war’s, ich bin im Ziel.
Nach 8:58 Stunden rolle ich über die Ziellinie.
Aber ehrlich gesagt ist mir die Zielzeit in diesem Augenblick völlig egal. Als die Anspannung langsam von mir abfällt, suche ich für einen kurzen Moment nach einem Gefühl der Enttäuschung, aber ich muss zu meiner Erleichterung feststellen, da ist keines.
Stattdessen überwiegt der Stolz, das Rennen gefinisht zu haben, so gut es für mich heute eben ging. Ich schließe meine Freundin und meine Mutter in die Arme.
Dann geht’s ins Hotel.
Die schönste Dusche der Welt
Ich gönne mir eine warme Dusche, schlupfe in trockene Kleider und treffe im Zielbereich auf Jonas. Er kam knapp 20 Minuten vor mir ins Ziel. Auch er war heute nicht wirklich bereit, große Risiken einzugehen und hat in den Abfahrten entsprechend rausgenommen.
Erst jetzt erfahre ich, dass ich tatsächlich über weite Teile der Strecke vor ihm lag und er mich erst während meiner Massagestunde in Schönau überholt hat.
Zusammen mit hunderten von Zuschauern heißen wir die restlichen Fahrer im Ziel gebührend willkommen. Als schließlich auch mein Vater nach etwas über 12 Stunden gesund über die Ziellinie fährt, fällt mir ein Stein vom Herzen und ich bin super stolz auf ihn, dass er das geschafft hat.
Mittlerweile setzt die Dämmerung ein. Während wir eineinhalb Stunden gemütlich beim gemeinsamen Abendessen sitzen, rollt draußen der letzte Fahrer nach 13 Stunden und 26 Minuten über die Ziellinie.
Das war er also, der Ötztaler Radmarathon 2018.
Fazit meines Ötztaler Radmarathons
Es war besonders hart dieses Jahr, keine Frage. Die Wetterbedingungen waren wirklich nicht ohne. Woher meine Krämpfe bei den Abfahrten letztlich kamen, kann ich immer noch nicht ganz genau sagen.
Flüssigkeit, Salz, Energie, was das betrifft kann ich mir eigentlich wenig vorwerfen. Am Ende war es sicherlich auch eine Mischung mehrerer Faktoren.
Nicht zuletzt die Kälte in Kombination mir dem Positionswechsel nach intensiven Bergauf- Passagen zur vergleichsweise statischen Abfahrtsposition. So oder so, werde ich der Sache weiter auf den Grund gehen.
Würde ich den Ötzi wieder fahren?
Auf jeden Fall. Die Strecke ist zu Recht legendär und wie so viele andere habe ich mittlerweile eine Rechnung mit ihr offen.
Meine „Road to Ötzi 2018“ war ein ganz besonderes Erlebnis. Ein ganz großes Dankeschön an dieser Stelle an Daniel, der die ganze Sache überhaupt erst möglich gemacht hat.
Danke an Philipp Diegner für das geniale Coaching. Ich hatte Riesenspaß beim Training. Der Leistungssprung über die letzten vier Monate kann sich wirklich sehen lassen, auch wenn ich die Leistung am Tag X leider nicht ganz so abrufen konnte, wie ich mir das vorgestellt hatte.
Danke.
Ein Dank auch an das gesamte Team des Ötztaler Radmarathons, für dieses fantastisch organisierte Event. Danke natürlich auch an Specialized für die geniale Rad-Leihgabe.
Und natürlich ein ganz besonderes Dankeschön an meine Freundin, meiner Familie und meine Freunde, die während monatelanger Vorbereitung immer hinter mir gestanden und mich unterstützt haben.
Ohne diesen Rückhalt wäre das ganze Unterfangen schlichtweg unmöglich gewesen.
Danke!
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Anm. Daniel: Danke dir Christian für diesen sehr illustren Bericht. In den kommenden Tagen werde ich mit Philipp Diegner Christians Ötztaler per Youtube-Video analysieren – ähnlich wie bei unserem Trainingsathleten Matthias im Sommer (siehe Video).
Wie schätzt der Sportwissenschaftler seine Leistung ein, woran erkennt er, wann es hart wird? Wie entwickelt sich die Herzfrequent zur Leistung (Watt)? Da sind richtig interessante Infos drin, einfach unserem Youtube Kanal abonnieren (hier klicken!), dann verpasst ihr keine Analysen, Tests und Interviews mehr!
Fotos: Ötztal Tourismus, Jürgen Skarwan, Lukas Ennemoser, Ricardo Gstrein, Christian Kratz, privat