Eigentlich wollte ich ja unter neun Stunden bleiben. Anfang des Jahres setzte ich mir dieses ambitionierte Ziel. Aufgrund privater Umstände wurde aber schnell klar, dass dieses Vorhaben nicht machbar ist. Knapp 10 Stunden dauerte nun mein Ritt beim mächtigen Ötztaler Radmarathon – eine Reise mit schmerzhaften Ups und wunderbaren Downs.
Sölden, 26.8.2017 gegen 20:00…
Der Plan:
Cool und wichtig aus der Wäschen gucken im Block 1. Standesgemäß hinter Ulle, Hornetz, Petzold & Co. Mit den Jungs dann ein bisschen Small Talk und runter nach Ötz. Man kennt sich. Hin und wieder anerkennend zunicken. Man schätzt sich.
Dann die erste harte Bewährungsprobe am Kühtai. Hektik. Nicht verrückt machen lassen von den Überambitionierten. Lieber schön sutsche, ist schließlich noch ein weiter Weg bis zurück nach Sölden. Anschließend die Auffahrt zum Brenner. Nicht steil, aber molto fies. Hier verheizen sie sich jedes Jahr. Viel zu hohes Tempo, keine Regeneration. GA1, vielleicht noch GA2, mehr auf keinen Fall. Ich bin ja Herr meiner Sinne. Verrückt schon gar nicht.
Zwei Pässe stehen im Anschluss noch auf dem Plan: Jaufenpass und Timmelsjoch. Rauf bis auf maximal 2.500 Meter. Das dicke und lange Ende kommt zum Schluss.
Vorher aber wie gesagt noch der Jaufen.
Robert Petzold meinte im Vorbericht, dass hier jeder froh sein wird, der am Kühtai nicht zu viel Pulver verschossen hat. Mein Plan am Vorabend in Zwieselstein: kontrolliert, aber schon einen Gang höher.
Denn nach dem Jaufen wird das Finale eingeläutet. Wie gesagt, am Vorabend. Mit diesem Plan fühle ich mich wohl. Klingt wohl durchdacht, aber dennoch ambitiös.
Am Schluss nun noch das Timmelsjoch. Dieses Drecksding, 1.700 Höhenmeter am Stück, knapp 30 km lang. Und oben dann die Kurven mit den Trikots. Sehr geil, wenn man es mal geschafft hat. Leck mich an de Füß bis dahin.
270 Watt will ich hier noch bringen. Etwas unter der Schwelle. Nochmal zeigen, was man für ein toller Hecht ist. Dann noch eine famose Abfahrt in bester Hermann-Maier-Manier – zur Belohnung das gemeinsame Volllaufen lassen und am nächsten Morgen zurück nach München.
Ein guter Plan.
Die Realität, am 27.8.2017 gegen 6:30…
Start vom Block 1 auf Umwegen
Krampfgefühle im Bauch, im Kopf sowieso. Durchfall? Doch nicht jetzt?
Mein Magen ist flau. Ich könnt jetzt nochmal so richtig auf den Einzylinder. Geht aber nicht. War schließlich schon drölf Mal, jetzt musst Zähne und Arschbacken zusammen kneifen. Nützt alles nix.
Ich rolle, aus Zwieselstein kommend, von hinten auf den megagroßen Startblock in Sölden.
WTF???!!!
Über 4.000 Teilnehmer, eine riesige Menschenwurst vom anderen Stern. Das mit Sicherheit größte Radevent, an dem ich jemals teilgenommen hab. Wie geil ist das denn?
Wäre ja zu schön, aber wie komme ich bitte in meinen Startblock? Starblock 1 wohlgemerkt. So viel Zeit muss sein. Schließlich warten dort Ulle & Co.
Ganz bestimmt.
Ich probiere, mich an der Seite, auf dem Fußweg, durchzuschlängeln. Kannst vergessen. Kein Durchkommen. Ich dreh um, ich dreh durch. Ich suche nach Alternativen.
Eine Brücke. Eine Idee.
Du musst über diesen Bach rüber – Ötztaler Ache – und auf der anderen Seite quasi vor den Start fahren. Immer noch ein Gefühl von Durchfall, aber keine einsame Hecke in Sicht. Ich bin nervös. Das ist normal. Sobald es losgeht, ist das Gefühl verschwunden.
Und in vier Minuten geht es auch schon los und ich fahre hier in Söldens Vororten rum..
Ein typischer Müller.
Die Taktik bewährt sich. Geht sich gerade noch so aus.
Von vorne kommend, fahre ich rein in den Startblock 1. Von Ulle, Fränk Schleck & Co. keine Spur. War klar. Irgendwo weiter vorne sehe ich sie aber, die Bergziegen: Petzold, Hornetz und Co. Andere Liga. Kümmere dich um dich selbst. Da hast du genug zu tun die nächsten 10 Stunden.
Alditüte unters Trikot und mit Donnerschlag geht’s los.
Es folgt die bekannte hektische Abfahrt nach Ötz. Für viele geht es um Leben und Tod. Nicht für mich, ich bin entspannt. Aber für die Jungs von hinten gilt das nicht. Wie Alberto Tomba zu besten Zeiten fahren sie im Slalom nach vorne – gehen und fahren quasi über Leichen. Eine Sauerei. Schlau, cool und smart ist das nicht. Einige Stürze bis Ötz, was Schlimmeres sehe und höre ich zum Glück aber nicht.
Anstieg zum Kühtai
Nun geht es los. Vorher noch die Einkaufstüte von der Brust, Ärmlinge runter und rein in das Ding. Gleich mal zweistellig. Mitten in die Fratz um kurz nach sieben. Ich bin aber zum Glück warm, das ist gut.
Kontrolliert, wie ich mir das vorgenommen habe, fahr ich natürlich nicht. 276 Watt bei einem Puls von 163 werde ich später auf Strava sehen. Viel zu viel für den Anfang. Gehofft hatte ich auf einen Puls von um die 150. Auch ein Fehler. Die Vorbereitung. Nicht nur zu wenig trainiert, ich hätte ein paar Tage früher anreisen müssen. An die Höhe gewöhnen. Hoch auf die Hütte. Kuchen essen und Kaffee saufen.
Aber gut, sollte nicht sein.
Nach einer der schnellsten Abfahrten meines Lebens geht es über Innsbruck auf den Brenner. Teilnehmerfeld minus eins. Einen hat’s in der Abfahrt so übel zerlegt, er musste per Hubschrauber abtransportiert werden. Gute Besserung an der Stelle. Immer dran denken, es geht um nix. Lebbe ist viel zu schön.
Immerhin 94 km/h stehen auf meinem Tacho. Wie ich hinterher erst sehe. Das ist schnell, eigentlich viel zu schnell für mein Sicherheitsempfinden. Ich bin jetzt Papa, ich will nix riskieren. Dennoch bin ich jetzt, gut eine Woche später echt erschrocken, als ich die Zahl sehe. Es ist der Blutrausch, du schaltest das Gehirn aus.
Aber immer noch kein Vergleich zu den Schnellsten. Spitzenjungs erreichen hier Geschwindigkeiten nördlich der 120 km/h. Ich bin jedenfalls sehr froh, kein Spitzenjunge zu sein.
Brenner – und es fängt an zu brennen
Ich weiß genau, warum die Mahner hier immer „rumsammern“. Das Ding ist nicht steil, es ist die perfekte Falle, unnötigerweise zu überdrehen und nicht zu regenerieren. Wenige Minuten, die du hier sparst sind ein Fliegenschiss gegen die ca. 2.700 Höhenmeter, die noch kommen.
Ich überlege kurz aus der Gruppe auszusteigen, tu es natürlich nicht. Ist klar. Geplant war Grundlage, maximal GA2. Die Realität heißt 163 Puls im Schnitt. Gibt es auch GA3?
Einer dieser Fehler, wie ich hinterher feststelle. Bei gerade einmal 243 Watt.
„The Trend is your Friend“, heißt es. Heute nicht für mich. Die vorgezeichnete Richtung ist klar. Es wird heute noch sehr weh tun. Davon weiß ich freilich noch nichts – ahne es aber.
Jaufenpass & Timmelsjoch
Die Jungs hatten Recht. Der Jaufenpass fährt sich sehr angenehm. Gleichmäßig und rhythmisch. Eigentlich kein Problem. Natürlich merke ich aber mit zunehmender Höhe die Vorbelastung der vorangegangenen Kilometer, noch ist aber alles im einigermaßen grünen Bereich.
Erst oben an der Vegetationsgrenze fängt es langsam an. Meine Motivation beginnt zu schwinden. Es sind immer noch 240 Watt, die ich im Schnitt auf die Kette bringe – bei etwas über 160er Puls. Oben wird sich nochmal ordentlich verpflegt und dann geht es in die schönste Abfahrt des Tages.
Eine Kurve nach der anderen. Herrlich!
So schön die Abfahrt auch war, so qualvoll wird es nun. Es beginnt der Anstieg zum Timmelsjoch. Und der ist wider Erwarten scheiße steil. Und scheiße heiß.
Knapp 30 Grad zeigt mir der Wahoo Elemnt Bolt Computer an.
Leckt mich doch an de Föß.
Drei Stunden und zwanzig Minuten werde ich von nun an noch unterwegs sein – was ich zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht weiß. Ich bin platt, mit zunehmender Distanz baue ich ab. Und zwar massiv. Erst die Labestation bei oder nach Schönau rettet mich. Ich weiß auch nicht mehr, ob der Ort wirklich so hieß. Ich gucke über kreuz.
Und ganz weit da oben, da sehe ich sie, trotz über-Kreuz-gucken, die Trikots in den Kurven. Zumindest bilde ich mir das ein. Gute 700 Höhenmeter gilt es von nun an noch zu knacken. Nach einigen Colas und Zuckerbomben geht es weiter.
Weiter, weiter, immer weiter.
Es sind die Momente, in denen du bereust keine drei Ausfahrten in der Saison über vier Stunden gemacht zu haben. Denn jetzt leidest du. Ohne Ende – und vollkommen zurecht.
Radsport ist ehrlich. Trainierst du nicht, macht es böse aua.
Es sind nur noch 220 Watt, die ich im Schnitt am Timmelsjoch auf die Kette bringe. Der Puls bleibt bei etwas unter 160. Der Stecker ist sowas von gezogen. Erinnerungen an die quälende Auffahrt vom Umbrailpass beim Endura Alpentraum 2014 kommen hoch.
Wie ein Eunuch krieche ich ins Ziel nach Sölden. Selbst Bergflöhe nehmen mir, wie ich hinterher auf Strava sehe, mehrere Minuten in der Abfahrt.
Ist aber egal, ich bin in Sölden. Das sind die Momente, in denen du der glücklichste Mensch auf der Welt bist. Das Ding ist geschafft.
Es ist Zeit ins Bett zu gehen.
Ich komme wieder, bestimmt!
PS: Morgen/übermorgen werden Philipp Diegner und ich den Ötztaler Radmarathon 2017 vergleichen: Profis vs. Top Jedermänner vs. normale Jedermänner (>>zum Artikel). Wie krass sind die Leistungsunterschiede? Folge einfach der SpeedVille Facebookseite und ich informiere dich, wenn der Artikel veröffentlicht ist.
Mein Ötzi 2017 auf einen Blick:
+ top organisierter Radmarathon
+ wunderbare Landschaft
+ sehr gute Labestationen
+ sensationelle Atmosphäre in Sölden und auf der Strecke
+ trotz der Anstrengungen keine Krämpfe (Danke Dr. Feil!)
+ sicheres Fahrgefühl mit dem Rose X-Lite CDX (besonders in den Abfahrten; Discs)
~ Finisherzeit mit 9:50 Stunden zumindest einstellig
– Anstiege für mich zu steil, insb. das Timmelsjoch
– Mitfahrer, die zu viel riskieren, insb. Abfahrt nach Ötz
(c) Fotos im Artikel: Ötztal Tourismus
1 comment
[…] der Ötztaler Radmarathon 2017 der härteste von Speed Ville war könnt ihr hier […]
Comments are closed.