Der Radsport lebt von Helden. Fahrer, die begeistern und mitreißen. Heroen, die die Massen elektrisieren. Vor zwanzig Jahren sorgte Jan Ullrich für einen Radsport-Boom in Deutschland. Ein ganzes Land war magenta – oder Ulle. Wie aber schaut es heute aus? Wo steht der Radsport im Vergleich zur Sportart Nr. 1 Fußball? Welcher Fahrer kann für einen erneuten Boom sorgen? Mein Versuch das Ganze mal in Zahlen auszudrücken…
Ich muss gestehen: So manches Mal habe ich meine gehörigen Zweifel und Bedenken, was den Stellenwert und damit einhergehend die Zukunft des Radsports in Deutschland betrifft.
Beispiele gefällig?
Im nächsten Jahr findet ein „Vorrundenspiel“ des größten Radsportspektakels, quasi die inoffizielle „Radsport-WM“, im heimischen Düsseldorf statt und gefühlt interessiert es – jenseits der Radsport-Szene – keine Sau. Klar, die einschlägigen Fachmedien berichten regelmäßig über den Tour-Start am Rhein, bei dem Tony Martin ja auch große Chancen eingeräumt werden, fürs neue Katusha Team gleich mal in Gelb zu schlüpfen. Aber jenseits dieser Radsportmedien? Subjektiv gefühlt: Flaute.
Ein Jahr nach Rückkehr der TDF zur öffentlich-rechtlichen ARD stagnieren die Zuschauerzahlen bei einem Marktanteil von gut 10 Prozent. Und Stagnation ist in der Wirtschaftssprache simpel gesprochen: Rückschritt. „Natürlich hätten wir uns aber gefreut, wenn das Zuschauerinteresse im zweiten Jahr wieder angewachsen wäre“ – wer diese Aussage von ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky zwischen den Zeilen liest, kann auch ohne Harvard-Abschluss herleiten, wie ARD-intern über das Thema diskutiert wird. Die Gesetze und Mechanismen am Markt sind grausam wie bekannt.
Insbesondere, wenn man sich einmal anguckt, wo man herkommt. Da sind die 10 Prozent Marktanteil nett. Mehr aber auch nicht. Denn sagenhafte 47% betrug der Marktanteil am 26.7.2003. Fast jeder zweite deutsche TV-Haushalt folgte dem 49 km langen Einzelzeitfahren der TDF von Pornic nach Nantes bei strömendem Regen vorm heimischen TV beim ewigen Duell Armstrong vs. Ullrich. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Fast jeder zweite!!! Deutschland war lange Zeit magenta, in diesem Sommer mintgrün.
Weitere Fragezeichen für die Weiterentwicklung der hiesigen Radsportlandschaft sind Absagen bekannter Rennveranstaltungen wie z.B. die Bayernrundfahrt, die an kolportierten 300.000€ gescheitert ist. Ein Betrag, den manch einer der alten Fußballeridole ehrenamtlich beschafft hätte. Die Absage von Eschborn-Frankfurt traf ebenfalls ins Mark.
Aktuell kein deutscher Klassementfahrer
Ein Grund für den abrupten Rückschritt ist vermutlich, dass nach zwei harten Dekaden die Allgemeinheit den Radsport vielleicht noch nicht für 100% glaubwürdig hält und ihm nur langsam die Chance auf Rehabilitation gewährt – ein anderer Grund, und aus meiner Sicht viel gewichtigerer, ist der fehlende deutsche Klassementfahrer, der für Spannung am TV sorgt. Froome und sein Team Sky, das wie ein Schweizer Uhrwerk beängstigend perfekt funktioniert, kann man sicherlich bewundern; lieben und verehren aber nicht. Dafür fehlt der Bezug.
Denn dafür brauchen wir einen aus heimischen Gefilden, der wie jeder von uns die eine oder andere Schwäche hat – dann funktioniert es übrigens besonders gut. Im Marketingsprech heißt so etwas „Stickyness“. Wir bleiben dran, wir leiden mit und feiern, wenn er dann doch die Kurve kriegt: sei es in den Bergen, wenn knapp 20 kg leichtere Italiener drohen ihm davonzufahren oder nach dem Winter, wenn er mal wieder mit Pausbäckchen aus dem Urlaub kommt. Er ist einer wie wir, ihm schmeckt’s halt.
Wir Deutsche brauchen also einen an dem wir uns reiben können. Exemplarisch dafür die Liste der „Big Six“ der deutschen Sportgeschichte: Beckenbauer, Becker, Graf, Schumacher, Schmeling – und natürlich Jan Ullrich.
Was haben wir nicht mit ihnen geschimpft, mitgelitten und am Ende dann doch gefeiert?!
Wie schaut’s heute aus? Wer kommt nach?
Fangen wir mit den Muskelpaketen an, bei den Männern mit der Schnellkraft, die für die letzten 500 Meter. André Greipel und Marcel Kittel gehören zur absoluten Weltspitze, etwas besseres findet man nur schwer im gesamten Profizirkus. Greipel zählt zwar langsam auch zum alten Eisen, mit Kittel haben wir aber einen, der uns noch in den nächsten 5-6 Jahren den einen oder anderen Sieg schenken wird. An Sprintern scheint es jedenfalls nicht zu mangeln. Ein bisschen so wie die Torwärte im Fußball. Da waren wir immer gut bestückt.
Kommen wir zu den Eintagesrennen, meine persönlichen Lieblingsrennen im Radsport. Bei den Frühjahrsklassikern haben wir mit John Degenkolb eine echte Maschine im idealen Radsportalter. Ein sogenannter Puncheur, einer mit viel Kraft, der auch mal einen kleinen Hügel hochknallt und im Schlusssprint schwer zu schlagen ist. Mit seinen beiden Klassikersiegen in 2015 sorgte er für eine erste zarte Renaissance – der Radsport war an der Schwelle, wieder massenkompatibel zu werden. Sinnbild dafür waren die hochgestellten Radsportkappen mit dem „DEGE“ Schriftzug, die man allerorten wahrnahm.
Im Januar 2016 war das zarte Pflänzchen aber schon wieder dahin, zertreten vom Absatz einer alten Stiefelette. Eine englische Rentnerin hatte die Orientierung verloren und Degenkolb samt Equipe im spanischen Calpe über den Haufen gefahren. Totalschaden. Die Saison war gelaufen. Mit neuem Team darf man im kommenden Jahr mehr als optimistisch sein, wieder die eine oder andere hochgestellte Kappe mit eben genanntem Namenszug zu sehen.
Eine weitere Disziplin, bei der wir uns nicht verstecken müssen, ist das Zeitfahren. Seit 2011 ist der Cottbuser Tony Martin das Maß aller Dinge und setzt mit wenigen Ausnahmen Maßstäbe im internationalen Peloton. Mit 31 Jahren ist Martin aktuell im besten Radfahreralter, in den nächsten 3-4 Jahre wird er uns sicherlich noch den einen oder anderen Sieg bescheren, wenn er wieder mal mit aufgerissenem Mund und rotunterlaufenen Augen die Fliegen inhaliert.
Was zählt, ist aber die Tour
So weit so gut, für (inter)nationalen Ruhm und Ehre muss man aber bei der Tour de France vorne mitfahren. So blöd es klingt, ist aber nun mal so. Da schaut die Welt drauf, da ist der Fokus. Alle oben genannten Profis spielen in der Gesamtwertung der 3-wöchigen Rundfahrt leider keine Rolle. Einziger deutscher Hoffnungsschimmer am Horizont der Klassementfahrer ist der gerade einmal 20-jährige Lennard Kämna, der in der kommenden Saison für das Team Sunweb Giant oder Giant-Sunweb, so genau weiß das noch keiner, an den Start gehen wird. Lennard gilt für viele Insider als eins der größten Talente seit Jan Ullrich und ist aktueller U23-Europameister im Einzelzeitfahren. Emanuel Buchmann, ebenfalls ein sehr talentierter Mann – vor allem in den Bergen – fehlt es laut Experten dafür wiederum beim Zeitfahren.
Geben wir Lennard also die Zeit, die er benötigt, um erstmal in der WorldTour anzukommen. Ich würde mir nichts sehnlicher wünschen, als den jungen Kerl mal in ein paar Jahren, am Hinterrad von Froome zu sehen. Im kommenden Jahr wird er aller Voraussicht nach aber noch nicht an der Tour teilnehmen.
Vergleich der Popularität anhand der Follower
Um einschätzen zu können, wo der Radsport steht, habe ich mir einmal die Protagonisten der Radsportszene rausgepickt und angeguckt wie viele Menschen ihnen auf den Sozialen Netzwerken (Facebook, Twitter und Instagram) folgen. Hinweis: Da sind natürlich Doppelungen dabei, das sind keine Unique Follower. Es ist die Summe der drei Kanäle. Aus meiner Sicht aber ein guter Indikator, um das Interesse der Öffentlichkeit am Sportler und der Sportart zu zeigen.
Und um jetzt einen Vergleich zu ziehen, habe ich die Zahlen mit der weltweiten Sportart Nummer eins verglichen: Fußball. Ich werde die Tabelle in den nächsten Monaten immer wieder aktualisieren, da kann man wunderbar Entwicklungen sehen. Jetzt zum Tourstart in Düsseldorf müsste es bei den Radsportlern ja ein deutliches Wachstum geben. Wird die Lücke ggf. etwas kleiner werden? Wir werden es sehen…
Persönlichkeiten aus der Welt des Radsports…
(Stand aller Zahlen: 10.12.2016)
Gesamt | ||||
Lance Armstrong | 2.267.205 | 3.800.000 | 65.400 | 6.132.605 |
Alberto Contador | 991.668 | 1.210.000 | 383.000 | 2.584.668 |
Chris Froome | 524.788 | 1.210.000 | 548.000 | 2.282.788 |
Mark Cavendish | 602.330 | 1.290.000 | 356.000 | 2.248.330 |
Nairo Quintana | 797.284 | 718.000 | 619.000 | 2.134.284 |
Peter Sagan | 911.561 | 563.000 | 627.000 | 2.101.561 |
Vincenzo Nibali | 403.633 | 480.000 | 157.000 | 1.040.633 |
Jens Voigt | 303.924 | 239.000 | 72.800 | 615.724 |
Marcel Kittel | 159.221 | 197.000 | 196.000 | 552.221 |
Cadel Evans | 143.113 | 340.000 | 7.600 | 490.713 |
Tony Martin | 68.758 | 134.000 | 111.000 | 313.758 |
Andre Greipel | 76.372 | 137.000 | 65.500 | 278.872 |
John Degenkolb | 41.152 | 54.800 | 93.200 | 189.152 |
Greg Lemond | 58.328 | 44.200 | 13.000 | 115.528 |
Jan Ullrich | 93.484 | n.a. | 1.891 | 95.375 |
Simon Geschke | 23.191 | 18.400 | 25.200 | 66.791 |
Ein Blick auf die Radsport Profiteams…
Gesamt | ||||
Team Sky | 848.359 | 702.000 | 456.000 | 2.006.359 |
Movistar Team | 443.220 | 459.000 | 278.000 | 1.180.220 |
Tinkoff | 506.321 | 169.000 | 294.000 | 969.321 |
Team Giant Alpecin | 112.370 | 116.000 | 139.000 | 367.370 |
BORA Argon 18 | 72.390 | 31.000 | 7.715 | 111.105 |
Und nun zum Vergleich die Fußballer…
Gesamt | ||||
Christiano Ronaldo | 118.092.110 | 48.700.000 | 83.700.000 | 250.492.110 |
Lionel Messi | 87.466.399 | n.a. | 60.900.000 | 148.366.399 |
Bastian Schweinsteiger | 9.600.136 | 3.820.000 | 7.300.000 | 20.720.136 |
Mats Hummels | 4.187.330 | 1.490.000 | 1.100.000 | 6.777.330 |
…und ihre Vereine:
Gesamt | ||||
FC Barcelona | 95.171.369 | 19.100.000 | 42.700.000 | 156.971.369 |
Real Madrid | 93.472.833 | 21.300.000 | 41.100.000 | 155.872.833 |
Bayern München | 40.189.569 | 3.160.000 | 8.500.000 | 51.849.569 |
BVB Dortmund | 15.021.042 | 2.430.000 | 3.200.000 | 20.651.042 |
1. FC Köln | 722.372 | 360.000 | 105.000 | 1.187.372 |
VFL Bochum | 116.716 | 74.200 | 12.700 | 203.616 |
Was fällt auf? Erkenntnisse der Übersicht
- Lance Armstrong – Wahnsinn, was der vom Radsport verbannte Mann noch an Followern hat. Über 6 Mio. Menschen, die den Posts, Tweets und Bildern des Texaners folgen, der die Tour sieben Mal „gewonnen“ hat. Meine Erklärung: Armstrong polarisiert. Seine Geschichte ist einfach zu spektakulär, als dass man sich davor verschließen kann. Bei allem Mist, den er getan hat, strahlt er scheinbar noch einen gewissen Reiz aus, dem die Menschen folgen möchten. Und, folgst du ihm auch noch? (Interessantes Interview von Armstrong mit Joe Rogan)
- Jan Ullrich – zwar in dieser Übersicht auf dem vorletzten Platz, ist er aber, was die Facebook-Follower anbelangt, nach Voigt und Kittel derjenige mit den drittmeisten Followern der Deutschen. Twitter betreibt er gar nicht, Instagram scheinbar auch noch nicht sehr lang bzw. sehr intensiv..
- Jens Voigt – der Deutsche mit den meisten Followern. Sicherlich, er hat eine offene und irgendwie authentische Art, die bei vielen gut ankommt, es gibt aber noch ein paar andere Seiten von ihm (siehe diesen Post). Ich kann es jedenfalls nicht ganz nachvollziehen, warum Voigt weltweit so populär ist
- John Degenkolb – dass Dege so weit hinten angesiedelt ist, hat mich definitiv überrascht. Wirklich erklären kann ich es mir nicht, ist er doch eine sehr interessante Persönlichkeit mit einer guten Geschichte. Im Marketingsprech würde man sagen: Er ist „vermarktbar“. Ich bin gespannt, ob seine Strahlkraft mit neuem, internationalerem Team (Trek) zunimmt
- Vergleich mit Fußballern – pervers wird der Vergleich, wenn man sich anschaut, was die Fußballer für eine weltweite Reichweite haben. 250 Mio. folgen Christiano Ronaldo, knapp 150 Mio. Leo Messi und immerhin noch gute 20 Mio. unserem Bastian Schweinsteiger. Klammern wir jetzt mal Armstrong aus und nehmen Contador und Froome als die Speerspitze der aktiven Radsportler, dann ist der Fußball um den Faktor 8-10 größer…
- Team Sky vs. Real Madrid – zweifelsohne zwei der größten „Clubs“ in ihrer Sportart. Beim Teamvergleich sieht man, dass der spanische Fußballclub knapp 80 Mal so viele Follower hat…