In meinen Interview Sessions #002 führte ich dieses sehr, sehr interessante Gespräch mit Björn Geesmann. Björn ist Geschäftsführer bei STAPS, einem der größten deutschen Institute für Leistungsdiagnostik.
Björn Geesmann (STAPS) im Interview
Björn, mit 23 Jahren warst Du bereits 1. Vorsitzender eines sauerländischen Fußballvereins, mit 28 Jahren bist Du Geschäftsführer bei STAPS – Du scheinst Dich nicht vor Verantwortung zu scheuen. Was reizt Dich daran?
Das mache ich nicht wegen der Verantwortung. Das sind zwei Aufgaben, die sehr spannend sind bzw. waren. Beide hatten ein tolles Entwicklungspotenzial und etwas mit Leidenschaft zu tun. Und was ich immer super finde, ist mit sympathischen und coolen Menschen zusammenzuarbeiten – in beiden Fällen war das der Fall. Wenn dann noch Verantwortung hinzukommt und man Dinge gestalten kann, ist das die Krönung.
Als Student der Deutschen Sporthochschule kamst Du damals zu STAPS – wie kam es, dass Sebastian Weber Dir den Staffelstab übergeben hat?
2008 habe ich als Student bei STAPS angefangen. Im Anschluss bin ich Schritt für Schritt weiter in das Institut hineingewachsen. Vor einem guten Jahr hatte ich überlegt, etwas anderes zu machen. Ich hatte in den sechs Jahren so gut wie alles gesehen, unzählige Profis auf dem Ergometer gehabt. Dann ergab sich die Chance, das Institut zu übernehmen. Und diese Perspektive war natürlich eine sehr reizvolle. Meine Rolle von heute ist mit der vor einem Jahr nicht mehr zu vergleichen.
Du führst wahrscheinlich kaum noch Leistungsdiagnostiken durch und kümmerst Dich logischerweise um die Geschäftsentwicklung?
Ganz genau. Von meinen knapp 70 Athleten betreue ich zurzeit nur noch knapp 30. In der verbleibenden Zeit geht es wie Du sagst um die Geschäftsentwicklung. Darin habe ich schon einige Zeit investieren müssen. Ich habe keinen betriebswirtschaftlichen Hintergrund, sondern bin „nur“ Sportwissenschaftler. Daher habe ich mir einiges aneignen müssen.
Was gefällt Dir besonders an Deinem Job bei STAPS?
Ich stehe sehr auf Teamarbeit. Mittlerweile haben wir mit Hamburg und Köln zwei Teams in zwei Städten. Mir macht es sehr viel Spaß mit den Teams einzeln aber auch verknüpft zu arbeiten. Außerdem reizt es mich sehr, mit diesen jungen, sehr talentierten Menschen, etwas zu kreieren. Das ganze Ding hier bei STAPS macht einfach sehr viel Spaß. Dass ich mein Hobby zum Beruf machen konnte, ist natürlich auch überragend, ganz klar.
Stellst Du im Laufe der Zeit Verbesserungen in der Trainingsentwicklung bei den Athleten fest, vor allem bei den Jedermännern?
Ich möchte jetzt eigentlich nicht das Klinsmann-Zitat bringen, dass wir uns jeden Tag verbessern möchten, wir arbeiten aber viel dran, immer wieder neuen Input von außen zu bekommen, und besuchen daher auch zahlreiche wissenschaftliche Kongresse. Die Trainingswissenschaft hat sich aber seit 2008 nicht maßgeblich verändert.
Aufgrund der Leistungsmesser beobachte ich aber, dass die Effizienzen gestiegen sind, insbesondere im Breitensport. Die hat es in 2008 zwar schon peripher gegeben, heute würde ich aber sagen, dass sicherlich 80% unserer Kunden einen Powermeter nutzen. Ich muss dazu sagen, dass die Jedermänner oft den dritten vor dem ersten Schritt machen. Diesen Powermeter richtig zu nutzen, ist die Kunst.
Was sind die beliebtesten Leistungsmesser unter Euren Kunden?
Das ist eine gute Frage. Ich bin selber großer SRM-Freund, da ich damit groß geworden bin. Mir persönlich käme auch nichts anderes ans Rad. Jedoch gibt es mittlerweile zahlreiche weitere Anbieter, die das ebenfalls sehr gut machen – und das für einen deutlich geringeren Preis, wie zum Beispiel Power2max.
Ich hatte schon ein paar Bedenken mit Powermetern, die bei Markteinführung nicht wirklich gut waren wie Garmin oder die Pedalen von Polar. Bei Polar fand ich nicht nur den Markteinstieg schlecht, auch die Lebensdauer und der Marktausstieg waren eher misslungen. Unterm Strich tippe ich, dass Stages und Power2max die beliebtesten Powermeter sind. Garmin darf man aber auch nicht vergessen.
In zwei kurzen Sätzen: Was ist der Vorteil von wattgesteuertem Training?
Darüber könnte ich Bücher schreiben, so viele Vorteile hat wattgesteuertes Training. (lacht) Effizienz ist sicherlich das Zauberwort.
Da der Puls in der Regel schwankt…
Genau. Die Herzfrequenz ist subjektiv: abhängig von Koffein, Wetter, Temperatur, Stress und so weiter. Wohingegen Leistung ein sehr objektiver Parameter ist. Hier gibt es keinen Gegenwind oder Rückenwind, gut geschlafen oder schlecht geschlafen. Mit einem Leistungsmesser kann das Training auf die Sekunde genau in jedem Bereich gesteuert und auf ein ganz anderes Level gehoben werden. Das kann ich klar sagen.
Was ich aber noch erwähnen möchte, ist das Stichwort Analyse: Jeder, der ein solches Gerät hat, sollte sich damit auseinandersetzen. Es darf nicht nur eine weitere Zahl auf dem Tacho sein. Wer so ein Gerät hat, sollte es auch vernünftig nutzen: Wie ich meine Head-Unit vernünftig einstelle, wie ich das Gerät so kalibriere, dass es korrekte Werte anzeigt und dann geht es weiter mit Fragen: Wie steuere ich das Training? Wie kann ich eine Herzfrequenz mit einem Leistungsmesser kombinieren? Auch hier gibt es sehr interessante Erkenntnisse. Wer soviel Geld für einen Powermeter ausgibt, sollte sich verpflichtet fühlen, dieses Gerät auch vernünftig zu nutzen.
Zu Euren Athleten gehören Rennradfahrer, Triathleten und Läufer – wie unterscheiden sich diese Sportler in Deiner Wahrnehmung?
Die Läufer würde ich hier ausklammern, davon haben wir nicht so viele als Kunden. Beim Vergleich von Triathleten und Radfahrern behaupte ich, dass der Triathlet noch etwas technikaffiner ist und noch mehr Inputs von außen bekommt. Er muss nicht nur Powermeter und Rennräder vergleichen, sondern Neoprenanzüge, Schwimmbrillen, Recovery Shakes und so weiter – ich stelle aber auch fest, dass sich einige Triathleten öfter darin verlaufen. Die Prioritätenliste gilt es zu hinterfragen.
Bei Radfahrern habe ich den Eindruck, dass manche Jedermänner glauben, sie könnten durchaus mal die Tour de France fahren. Da reicht manchmal, überspitzt gesagt, eine schnelle Runde beim German Cycling Cup um das Schloss Bensberg. Man merkt bei Radfahrern aber auch Unterschiede ob sie aus Deutschland, Österreich oder Holland kommen. Definitiv.
Echt, welche denn?
Ich finde, dass der österreichische Amateur oder Semiprofi deutlich professioneller ist als der deutsche. Deswegen glaube ich, sieht man in Relation zur Bevölkerung mehr österreichische Talente als in Deutschland: Ein gutes Beispiel ist die Anzahl der österreichischen Fahrer im „Pro-Conti-Bereich“. Und das obwohl es keine österreichischen Teams gibt, wohingegen es aber zwei deutsche Teams gibt. Auch in der Radsport-Struktur stelle ich einen Unterschied fest. Ich behaupte, dass der österreichische Verband professioneller aufgestellt ist.
Haben sie landschaftlich einen Vorteil? Bessere Trainingsstrecken?
Sind die Bedingungen wirklich so viel besser in Österreich? Jetzt im Winter sind die Temperaturen noch niedriger als bei uns. Und sonst trainiert der österreichische Profi auch kaum in Österreich. Sie sind doch mit ihren Teams in den bekannten Trainingsrevieren auf Gran Canaria, Mallorca oder am Gardasee.
Du bist selber lange Fußballer gewesen: Könntest Du Dir vorstellen, dass ein superfitter Bundesligaprofi bei Radprofis mithalten kann?
Nein, auf keinen Fall. Dafür sind die Sportarten zu unterschiedlich. Wenn wir den Begriff Kondition mal auseinandernehmen: Ausdauer, Beweglichkeit, Koordination. Da hat ein Radfahrer sicherlich riesige Vorteile. Ich habe zwar nie einen Profifußballer bei uns auf dem Ergometer gehabt, die Leistungswerte, die man aber in der Sportwissenschaftler-Szene von den Profifußballern kennt, würde ich – vorsichtig formuliert – mit denen von ambitionierten Hobbysportlern vergleichen. Vom Bewegungsablauf ist das eine ganz andere Nummer: antreten, Sprinten, wieder antreten und so weiter. Daher gewinnt der Radprofi immer wenn es um die Ausdauer geht, wobei der Fußballprofi immer gewinnt, wenn es um die Physis geht. Wenn ich mir einen Jerome Boateng anschaue, muss ich zugeben, dass er so etwas wie ein Modellathlet ist: Er läuft die 100 Meter in etwas über 11 Sekunden. Auch hinter seinem Oberkörper kann sich wohl fast jeder Radfahrer verstecken.
Und ein superfitter Thomas Müller, könnte er den Ötzi unter 8 oder 9 Stunden finishen?
Das ist natürlich einer, bei dem wir beide wissen, dass er ausdauertechnisch ganz weit vorne dabei ist. Guter Punkt. Aus meiner Sicht einer der ausdauerstärksten Bundesligaprofis. Hättest Du mich nach Michael Ballack gefragt, hätte ich wahrscheinlich gesagt, dass er niemals finishen würde. Thomas Müller würde auf keinen Fall unter acht Stunden finishen, es sei denn er bereitet sich 2-3 Jahre darauf vor. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass er mit einer gewissen Vorbereitung den Ötzi finishen würde.
Unter 9 Stunden oder unter 10 Stunden?
Unter neun ist auch schon sehr ambitioniert. Dafür braucht man in etwa vier Watt an der Schwelle. Ich würde tippen: 10-12 Stunden.
Du hast schon viele Jedermänner betreut – was sind die typischen Fehler?
Ich finde, dass sich viele Hobbyfahrer zu schnell von Trends verleiten lassen. Nach dem Motto: Mein Trainingskollege hat einen Powermeter, dann brauche ich jetzt auch einen. Also, wie eben schon gesagt: Bitte nicht den dritten vor dem ersten Schritt machen. Wir könnten ja mal Deine Leser fragen, wie viele von ihnen nach dem Training ihre Dateien auslesen und analysieren? Ich tippe mal auf 10%. Deutlich mehr werden es nicht sein.
Das sollte letzten Endes jeder für sich selbst wissen, aber das geht leider an der Sache vorbei. Auch das Thema Trainingsplanung möchte ich erwähnen: Der pauschale Trainingsplan aus der TOUR ist bestimmt eine gute Sache, um den Einstieg in das Thema zu finden. Aber natürlich in keinster Weise an mich als Individuum angepasst. Auch eine vernünftige Ernährung läuft oftmals noch defizitär. Insbesondere im Wettkampf werden viele Anfängerfehler begangen.
Siehst Du ein Wachstum im Jedermann-Markt?
Ich habe seit einigen Jahren den Eindruck, dass es stetig ansteigt. In 2006/2007 – in den dunklen Jahren des Profiradsports – hatte ich nicht das Gefühl, dass der Hobbyradsport mit runter geht. Wenn ich mir die Anmeldezahlen des Ötztalers anschaue, behaupte ich, der Trend geht eher nach oben. Überraschend fand ich aber, dass letztes Jahr das eine oder andere German-Cycling-Cup-Rennen aufgrund zu geringer Teilnahme abgesagt wurde. Das kann aber auch ein klassisches Problem des German Cycling Cups sein. In der Spitze sind das nicht mehr Jedermänner, sondern Semi-Profis, die Lizenzrennen fahren sollten, das aber offenbar nicht möchten, da sie sich im Jedermannsport besser positionieren können.
Der eine oder andere Jedermann tendiert dazu, es etwas zu übertreiben: zu viel Training, zu krasse Diäten. Zeigst Du den Jungs in Deiner Rolle als Trainer auch mal die Gelbe oder Rote Karte?
Ich bin mir beim Stichwort „Übermotivation“ nicht ganz sicher. Oftmals ist es aus meiner Sicht Unsicherheit, da viele Fahrer niemanden haben, den sie um Rat bitten können. Und ich glaube mit steigender Sicherheit sinkt die Übermotivation.
Aber es gibt definitiv die Momente, in denen wir natürlich den Finger heben und sagen: Auf keinen Fall trainieren! Wenn jemand zum Beispiel krank ist. Auch wenn es nur eine kleine Erkältung ist, sollte man auf keinen Fall trainieren. Aus zweierlei Gründen: Wir als Trainer wollen natürlich keinen Athleten haben, der mal eines Tages an einer Herzmuskelentzündung oder etwas Schlimmeren erkrankt. Und der Radfahrer möchte sich natürlich auch nichts Chronisches einfangen. An diesen 2-3 Tagen bitte die Füße still halten, da kann eh nicht so viel kaputt gehen.
Ist das auch bei Euren Profis so?
Definitiv. Bei den Profis kommt hinzu, dass es nicht nur um das Gesundheitsrisiko geht, sondern vor allem auch um das Berufsrisiko. Der Körper will mir mit einer Krankheit meistens etwas sagen. Klar kann ich mich unglücklich irgendwo angesteckt haben, es kann aber auch das Symptom von eben erwähnter Übermotivation sein.
Gibt es bei Eurer exquisiten Athletenliste einen Sportler, mit dem die Zusammenarbeit außergewöhnlich erfolgreich war?
Wir haben einige Profis bei STAPS, der Athlet, mit dem man uns am ehesten assoziiert, ist sicherlich Tony Martin. Er wurde schon von STAPS betreut, als ich 2008 einstieg. Er lässt sich heute noch von uns das Training steuern.
Wie ist das mit seinem Team Etixx-Quick Step koordiniert?
Das läuft über den STAPS-Gründer Sebastian Weber, der sein Coach ist. Die beiden wohnen mittlerweile auch fast am gleichen Ort und trainieren sehr viel miteinander. Auch mal mit Auto und Fahrrad. Zusammen mit dem Teamchef, dem Sportlichen Leiter, dem Berater und dem Coach, und natürlich dem Fahrer selbst, wird dann das Training gesteuert. Das ist schon ein komplexes Konstrukt. Bei einem Weltklasse-Athleten wie Tony, gehören mittlerweile so viele Leute dazu, und auch die Physios werden mit einbezogen. Es gibt einen ganzen Stab an Menschen, die sich mit Tony beschäftigen. Und es hat funktioniert. Es hat ihn zu einem sehr erfolgreichen Radfahrer gemacht, mit drei Weltmeistertiteln im Zeitfahren.
Aber auch in Zeiten, in denen es nicht so gut lief, wie bei der WM in Richmond letztes Jahr, da rückt der Stab dann wieder enger zusammen und überlegt sich, wie man diese gefühlte Niederlage umkehren kann. Sebastian überlegt sich dann in Abstimmung mit den Etixx-Verantwortlichen neue Ansätze. Ich bin sehr gespannt, wie das in Rio wird.
Das bin ich auch. Die Planung ist sicherlich sehr granular.
Das kann man sich fast vorstellen wie bei einem Computerspiel. Die Zeit, mit der Tony da finishen wird, kann fast auf die Sekunde vorhergesagt werden: Leistung, Laktatbildungsrate, Laktatabbaurate, Topografie, Wetter, Wind, aerodynamische Eigenschaft von Fahrer und Rad etc.
Das bedeutet, dass Sebastian den Kurs in Rio schon inspiziert.
Davon darfst Du ausgehen.
Tony kann für lange Zeit sehr viel Watt treten, und so schwer ist sein Körpergewicht nun auch nicht – warum schafft er es nicht, ein Wörtchen um den Toursieg mitzureden?
Die Diskussion ist ja schon etwas älter, das ging vor 5-6 Jahren los. Wenn Du die ganz präzise Antwort haben möchtest, solltest Du am besten Tony selbst fragen. Physiologisch gesehen ist er aber doch noch etwas zu schwer, da hat er noch zu viel Masse. Selbst als Bradley Wiggins 2012 die Tour gewann, lagen locker nochmal drei Kilo dazwischen. Und drei Kilo bei 470 Watt an der Schwelle machen eine Menge aus.
Ein gutes Beispiel dafür ist Lance Armstrong vor und nach der Krebserkrankung. Vorher war er der eher bullige Fahrer, als er zurück kam, hatte er kaum noch Oberkörpermuskulatur und gewann die Tour – natürlich auch aufgrund einiger anderer Faktoren.
Bei dem Thema bin ich mir nicht sicher, ob man die Tour überhaupt sauber gewinnen kann. Fakt ist, dass Froome und Nibali nicht positiv getestet wurden, daher gilt immer die Unschuldsvermutung. Ich würde meine Hand für die beiden aber nicht ins Feuer legen. Tony verliert die Tour, weil er am 5. oder 6. Tag in den Bergen nicht mehr die Konstanz bringt wie ein Nibali oder Froome.
Und dann muss man natürlich das Gesamtpaket sehen: wenn er drei Kilo abnimmt, dafür aber Qualitäten im Zeitfahren einbüßt, im Gesamtklassement dafür aber 28. wird, interessiert das keinen Menschen. Wenn er auf Gesamtklassement geht, muss sein Ziel sein, mindestens aufs Podium zu kommen. Ist das nicht möglich, wäre er schlecht beraten, sich seiner Stärke – dem Zeitfahren – zu berauben. Lieber erneut Zeitfahrweltmeister oder Olympiasieger werden.
Gegenfrage Daniel: Weißt Du, wer letztes Jahr Vierter bei der Tour de France wurde?
Nicht wirklich, ein Franzose? Pinault?
Ich weiß es auch nicht. Ich müsste selbst bei Platz zwei und drei etwas länger überlegen.
Angenommen, Du würdest einen Zeitfahrer wie Tony Martin zum Klassementfahrer trainieren: wie würde sich sein Training ändern?
Beide Disziplinen haben ja schon mal inne, über einen längeren Zeitraum viel Leistung zu vollbringen. Wer die Tour de France ganz weit vorne beenden will, muss eine gewisse Spritzigkeit mitbringen, um auch mal die eine oder andere Attacke fahren zu können wie man das von Chris Froome kennt. Also das, was bei Jan Ullrich früher „vermisst“ wurde. Er war eher nicht derjenige, der sich mit einem harten Antritt abgesetzt hat. Sein Ansatz war die Gleichmäßigkeit. Daher würde bei Tony Martin das Thema Spritzigkeit ins Training einfließen, denn das braucht er ja fürs Zeitfahren nicht. Das Gewicht ist sicherlich auch ein wichtiger Faktor. Aber zu 85-90% würde sein Training ähnlich aussehen wie heute.
Peter Sagan war ebenfalls einer Eurer Athleten. Was schätzt Du: Wie viel Watt hat er bei der WM in Richmond bei seiner Attacke getreten?
Du kannst sicher sein, dass das jenseits der 500 Watt war, und das nicht nur über 30 Sekunden, was wir vielleicht auch noch 30 Sekunden schaffen würden. Das zog sich über ein paar Minuten.
Als wir früher Sagan betreuten, war das auch für uns komplettes Neuland. So einen hatte ich vorher noch nie gesehen. Der war komplett anders als ein Sprinter oder auch ein Klassementfahrer, ein echt spezieller Typ. Ein klassischer Fall von: kann alles!
Es wundert mich nicht, wenn Peter Sagan mit etwas weniger Gewicht in ein paar Jahren versuchen würde Rundfahrten zu gewinnen wie die Tour de Suisse oder Critérium Du Dauphiné. Er muss nur aufpassen, dass er am Ende nicht von allem ein wenig kann, dafür aber nichts perfekt. Im Sprint gegen Greipel und Kittel hat er z.B. in 9 von 10 Fällen keine Chance.
Aber unterm Strich ist er ein super Fahrer. Er kann sehr hart antreten und auch mal bis zu 30 Sekunden eine vierstellige Wattzahl. Dann hat er die Fähigkeit, diese 500 Watt über einen etwas längeren Zeitraum durchzudrücken. Diese Attacke in Richmond war schon schwer beeindruckend – sicherlich einer der Radsport-Momente in 2015.
Wie war die Zusammenarbeit mit diesem positiv „Verrückten“?
Wir hatten ihn einige Male auf Mallorca betreut. Ich finde, dass er privat deutlich introvertierter ist, als man ihn aus dem TV kennt. Ich glaube, dass viel Marketing dahinter steckt. Er ist aber ein sehr freundlicher und höflicher Kerl – auch sehr lustig. An eine Anekdote kann ich mich gut erinnern: Er musste sich vor dem Test auf die Waage stellen und wunderte sich, dass das Gewicht deutlich höher war als erwartet.. Ich hatte ihn dann darauf hingewiesen, dass er vielleicht mal diese überdimensionale silberne Kette abnehmen möchte. Er gab sie mir in die Hand, und das Ding hatte echt einiges gewogen. Das war kein kleiner Klunker. (schmunzelt)
Wie viel wiegt er in etwa? 74-75 kg?
Ja, das kommt gut hin. Eher ein bulliger Typ. Das ist aber abhängig vom Saisonstand.
Um wie viel Prozent steigert Ihr im Schnitt die Performance vom Beginn der Saison bis zum Saisonhöhepunkt?
Das ist stark von der Vorgeschichte abhängig. Das wirst Du aber in den folgenden Monaten bei Dir selbst beobachten: es werden einige neue Trainingselemente für Dich aufkommen. Dies wird sicherlich einen Impact haben. Eine Steigerung von mindestens 5% ist die Pflicht, 10% wären die Kür. Das Schöne ist aber, dass diese Leistungssteigerung einen Impact auf das Folgejahr hat. Jetzt im Januar 2015 hast Du 325 Watt an der Schwelle, wenn Du nächstes Jahr im Januar kommst, sind es wahrscheinlich schon 340 Watt. Daher ist das Ziel nicht nur einmalig – zum Saisonhöhepunkt – eine Steigerung zu erzielen, sondern diese Steigerung mit ins folgende Jahr zu nehmen.
Ist das mit zunehmendem Alter auch möglich?
Auf jeden Fall.
Kippt das nicht ab einem gewissen Alter?
Das ist die klassische Jedermann-Ausrede. Auch mit 45 oder 50 Jahren gibt es noch eine Menge Luft nach oben. Wir haben jede Menge Sportler, die mit 50 Jahren fitter sind als mit 28. Mit zunehmendem Alter werden die Leistungssprünge jedoch etwas geringer. Mit Mitte 50 setzt ein Prozess ein, bei dem es darum geht, Leistung zu halten. Die Regeneration dauert länger, die Leistung ist nicht mehr so ganz verträglich.
Die Trainingsqualität ist wichtiger als die -quantität – so wie bei Eurem RAAM Sieg?
Ja, unser Paradebeispiel. Wir haben das RAAM gewonnen mit einer Trainingszeit von 10 Trainingsstunden im Schnitt pro Woche. Man muss also nicht 25 Stunden in der Woche trainieren.
Eine Eurer Dienstleistungen ist die Pacingstrategie – betrachtest Du hierfür den Athleten isoliert oder beziehst Du auch die Leistungswerte der Konkurrenz mit ein?
Bei Tony Martin ist das so. Das ist natürlich granularer, als wenn wir einen Athleten auf das Zeitfahren beim RiderMan vorbereiten. Logisch. Bei Tony schauen wir nach links und rechts, was z.B. Kiryjenka oder Tom Dumoulin mit sich bringen. Da geht es um die granularsten Kleinigkeiten wie Material, Position etc.
Die Pacingstrategie gibt es aber nicht nur für Profis, die machen wir auch für Jedermänner beim Ötztaler oder für ein Jedermannrennen wie „Rund um Köln“. Da geht es nicht nur um die Leistung, sondern vor allem auch um Fragen: Wie wärme ich mich auf? Was esse ich? Wie trainiere ich vor dem Rennen? Wann lege ich Ruhetage ein? Wie kühle ich mich? Wie benutze ich Koffein im Rennen? Wie supplementiere ich die Woche vor dem Rennen rote Beete? Das kann man sich wie ein riesiges Baukastensystem vorstellen.
Das mit der Roten Beete ist sehr interessant…
Ein sehr gutes Tool für Training und Wettkampf. In den letzten 4-5 Jahren hat es sich in der Wissenschaft souverän durchgesetzt, ohne größere negative Stimmen. Es ist leistungssteigernd und die Ökonomisierung verbessert sich.
Wie nehme ich es auf? Essen oder trinken?
Beides geht. Essen würde aber in den erforderlichen Mengen nicht wirklich gut funktionieren. Die Hersteller bringen aber mittlerweile sehr gute Extrakts raus – sogenannte Shots. Bitte nicht wundern, wenn hinterher der Urin rot ist, das ist kein Blut.
Nimmt man es vor dem Wettkampf oder während des Wettkampfs ein?
Wiederum unterschiedlich. Man sollte eine kleine Kur machen, über mehrere Tage hinweg, um den bestmöglichen Effekt zu erzielen. Mindestens über drei Tage, jedoch nicht länger als eine Woche, da sich sonst ein Gewöhnungseffekt einstellen kann. Der Effekt würde wieder verpuffen.
Welcher Stoff ist da drin?
Nitrit bzw. Nitrat, je nachdem wie es am Ende abgebaut wird. Allgemein gesagt, wird Dein Sauerstofftransport dadurch verbessert. Ich muss dazu sagen, dass es zu 100% legal ist. Eine Zeit lang stand es auf dem Prüfstand als es neu aufkam.
Noch ein Tipp für die Leser: Die Mehrheit der Leser haben einen 40-Stundenjob. Wie schaffen sie es, vor allem jetzt im Winter, mit minimalem Aufwand das Maximum herauszuholen? Kannst Du hierfür einen „pauschalen“ Tipp geben?
Ich glaube, dann könnten wir den Laden zumachen. (lacht)
Der Mensch ist einfach nicht pauschal, daher würde ein pauschaler Tipp in keinem Fall funktionieren. Von unseren über 200 Athleten, die wir betreuen, erarbeiten wir entsprechend über 200 unterschiedliche Trainingspläne. Bei uns gibt es nichts Pauschales. Deshalb halte ich recht wenig von Aussagen, dass man jetzt im Winter einfach mal viel Grundlage fahren soll. Bei Deinem Trainingskollegen wird das vielleicht funktionieren, das heißt aber noch lange nicht, dass es bei Dir funktioniert.